- Du siehst geschäftig bei dem Linnen
- die Alte dort in weißem Haar,
- die rüstigste der Wäscherinnen
- im sechsundsiebenzigsten Jahr.
- So hat sie stets mit sauerm Schweiß
- ihr Brot in Ehr und Zucht gegessen
- und ausgefüllt mit treuem Fleiß
- den Kreis, den Gott ihr zugemessen.
- Sie hat in ihren jungen Tagen
- geliebt, gehofft und sich vermählt;
- sie hat des Weibes Los getragen,
- die Sorgen haben nicht gefehlt;
- sie hat den kranken Mann gepflegt,
- sie hat drei Kinder ihm geboren;
- sie hat ihn in das Grab gelegt
- und Glaub‘ und Hoffnung nicht verloren.
- Da galt’s, die Kinder zu ernähren;
- sie griff es an mit heiterm Mut,
- sie zog sie auf in Zucht und Ehren,
- der Fleiß, die Ordnung sind ihr Gut.
- Zu suchen ihren Unterhalt
- entließ sie segnend ihre Lieben,
- so stand sie nun allein und alt,
- ihr war ihr heitrer Mut geblieben.
- Sie hat gespart und hat gesonnen
- und Flachs gekauft und nachts gewacht,
- den Flachs zu feinem Garn gesponnen,
- das Garn dem Weber hingebracht;
- der hat’s gewebt zu Leinewand.
- Die Schere brauchte sie, die Nadel,
- und nähte sich mit eigner Hand
- ihr Sterbehemde sonder Tadel.
- Ihr Hemd, ihr Sterbehemd, sie schätzt es,
- verwahrt’s im Schrein am Ehrenplatz;
- es ist ihr Erstes und ihr Letztes,
- ihr Kleinod, ihr ersparter Schatz.
- Sie legt es an, des Herren Wort
- am Sonntag früh sich einzuprägen;
- dann legt sie’s wohlgefällig fort,
- bis sie darin zur Ruh sie legen.
- Und ich, an meinem Abend, wollte,
- ich hätte, diesem Weibe gleich,
- erfüllt, was ich erfüllen sollte
- in meinen Grenzen und Bereich;
- ich wollt‘, ich hätte so gewußt
- am Kelch des Lebens mich zu laben,
- und könnt‘ am Ende gleiche Lust
- an meinem Sterbehemde haben.
Die alte Waschfrau
… eine Ballade von Adelbert von ChamissoDie alte Waschfrau von Adelbert von Chamisso wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/chamisso/die-alte-waschfrau/
Quelle: https://balladen.net/chamisso/die-alte-waschfrau/