- Über Rußlands Leichenwüstenei
- faltet hoch die Nacht die blassen Hände;
- funkeläugig durch die weiße, weite,
- kalte Stille stam die Nacht und lauscht.
- Schrill kommt ein Geläute.
- Dumpf ein Stampfen von Hufen, fahl flatternder Reif;
- ein Schlitten knirscht, die Kufe pflügt
- stiebende Furchen, die Peitsche pfeift,
- es dampfen die Pferde, Atem fliegt,
- flimmernd zittern die Birken.
- „Du – was honest du von Bonaparte“ –
- Und der Bauer horcht und will′s nicht glauben,
- daß da hinter ihm der steinern starre
- Fremdling mit den hanen Lippen
- Wone so voll Trauer sprach.
- Antwort sucht der Alte, sucht und stockt,
- stockt und staunt mit frommer Furchtgebärde:
- aus dem Wolkensaum der Erde,
- brandrot aus dem schwarzen Saum,
- taucht das Hörn des Mondes hoch.
- Düster wie von Blutschnee glimmt die lange Straße,
- wie von Blutfrost perlt es in den Birken,
- wie von Blut umtropft sitzt Der im Schlitten.
- „Mensch, was sagt man von dem großen Kaiser?“
- Düster schrillt das Geläute.
- Die Glocken rasseln; es klingt, es klagt;
- der Bauer horcht, hohl rauscht′s im Schnee.
- Und schwer nun, feiervoll und sacht,
- wie uralt Lied so stark und weh
- tönt sein Won ins Öde:
- „Groß am Himmel stand die schwarze Wolke,
- fressen wollte sie den heiligen Mond;
- doch der heilige Mond steht noch am Himmel,
- und zerstoben ist die schwarze Wolke.
- Volk, was weinst du?
- Trieb ein stolzer kalter Sturm die Wolke,
- fressen sollte sie die stillen Sterne.
- Aber ewig blühn die stillen Sterne;
- nur die Wolke hat der Sturm zerrissen,
- und den Sturm verschlingt die Ferne.
- Und es war ein großes schwarzes Heer,
- und es war ein stolzer kalter Kaiser.
- Aber unser Mütterchen, das heilige Rußland,
- hat viel tausend tausend stille warme Herzen;
- ewig, ewig blüht das Volk.“
- Hohl verschluckt der Mund der Nacht die Laute,
- dumpfhin rauschen die Hufe, die Glocken wimmern;
- auf den kahlen Birken flimmert
- rot der Reif, der mondbetaute.
- Den Kaiser schauen.
- Durch die leere Ebne im sein Blick:
- über Rußlands Leichenwüstenei
- faltet hoch die Nacht die blassen Hände,
- glänzt der dunkelrot gekrümmte Mond,
- eine blutige Sichel Gottes.
Anno Domini 1812
… eine Ballade von Richard DehmelAnno Domini 1812 von Richard Dehmel wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/dehmel/anno-domini-1812/
Quelle: https://balladen.net/dehmel/anno-domini-1812/