Die Vergeltung

eine Ballade von Annette von Droste-Hülshoff

I

  1. Der Kapitän steht an der Spiere,
  2. Das Fernrohr in gebräunter Hand,
  3. Dem schwarzgelockten Passagiere
  4. Hat er den Rücken zugewandt.
  5. Nach einem Wolkenstreif in Sinnen
  6. Die beiden wie zwei Pfeiler sehn,
  7. Der Fremde spricht: „was braut da drinnen?“
  8. „Der Teufel,“ brummt der Kapitän.
  9. Da hebt von morschen Balkens Trümmer
  10. Ein Kranker seine feuchte Stirn,
  11. Des Aethers Blau, der See Geflimmer,
  12. Ach, Alles quält sein fiebernd Hirn!
  13. Er läßt die Blicke, schwer und düster,
  14. Entlängs dem harten Pfühle gehn,
  15. Die eingegrabnen Worte liest er:
  16. „Batavia. Fünfhundert Zehn.“
  17. Die Wolke steigt, zur Mittagsstunde
  18. Das Schiff ächzt auf der Wellen Höhn,
  19. Gezisch, Geheul aus wüstem Grunde,
  20. Die Bohlen weichen mit Gestöhn.
  21. „Jesus, Marie! wir sind verloren!“
  22. Vom Mast geschleudert der Matros‘,
  23. Ein dumpfer Krach in Aller Ohren,
  24. Und langsam löst der Bau sich los.
  25. Noch liegt der Kranke am Verdecke,
  26. Um seinen Balken fest geklemmt,
  27. Da kömmt die Fluth, und eine Strecke
  28. Wird er in’s wüste Meer geschwemmt.
  29. Was nicht geläng‘ der Kräfte Sporne,
  30. Das leistet ihm der starre Krampf,
  31. Und wie ein Narwal mit dem Horne
  32. Schießt fort er durch der Wellen Dampf
  33. Wie lange so? er weiß es nimmer,
  34. Dann trifft ein Stral des Auges Ball,
  35. Und langsam schwimmt er mit der Trümmer
  36. Auf ödem glitzerndem Kristall.
  37. Das Schiff! – die Mannschaft! – sie versanken.
  38. Doch nein, dort auf der Wasserbahn,
  39. Dort sieht den Passagier er schwanken
  40. In einer Kiste morschem Kahn.
  41. Armselge Lade! sie wird sinken,
  42. Er strengt die heisre Stimme an:
  43. „Nur grade! Freund, du drückst zur Linken!“
  44. Und immer näher schwankt’s heran,
  45. Und immer näher treibt die Trümmer,
  46. Wie ein verwehtes Möwennest;
  47. „Courage!“ ruft der kranke Schwimmer,
  48. „Mich dünkt ich sehe Land im West!“
  49. Nun rühren sich der Fähren Ende,
  50. Er sieht des fremden Auges Blitz,
  51. Da plötzlich fühlt er starke Hände,
  52. Fühlt wüthend sich gezerrt vom Sitz.
  53. „Barmherzigkeit! ich kann nicht kämpfen.“
  54. Er klammert dort, er klemmt sich hier;
  55. Ein heisrer Schrei, den Wellen dämpfen,
  56. Am Balken schwimmt der Passagier.
  57. Dann hat er kräftig sich geschwungen,
  58. Und schaukelt durch das öde Blau,
  59. Er sieht das Land wie Dämmerungen
  60. Enttauchen und zergehn in Grau.
  61. Noch lange ist er so geschwommen,
  62. Umflattert von der Möve Schrei,
  63. Dann hat ein Schiff ihn aufgenommen,
  64. Viktoria! nun ist er frei!
  65. II

  66. Drei kurze Monde sind verronnen,
  67. Und die Fregatte liegt am Strand,
  68. Wo Mittags sich die Robben sonnen,
  69. Und Bursche klettern über’n Rand,
  70. Den Mädchen ist’s ein Abentheuer
  71. Es zu erschaun vom fernen Riff,
  72. Denn noch zerstört ist nicht geheuer
  73. Das gräuliche Corsarenschiff.
  74. Und vor der Stadt da ist ein Waten,
  75. Ein Wühlen durch das Kiesgeschrill,
  76. Da die verrufenen Piraten
  77. Ein Jeder sterben sehen will.
  78. Aus Strandgebälken, morsch, zertrümmert,
  79. Hat man den Galgen, dicht am Meer,
  80. In wüster Eile aufgezimmert.
  81. Dort dräut er von der Düne her!
  82. Welch ein Getümmel an den Schranken! –
  83. „Da kommt der Frei – der Hessel jetzt –
  84. Da bringen sie den schwarzen Franken,
  85. Der hat geläugnet bis zuletzt.“
  86. „Schiffbrüchig sey er hergeschwommen,“
  87. Höhnt eine Alte: „Ei, wie kühn!
  88. Doch Keiner sprach zu seinem Frommen,
  89. Die ganze Bande gegen ihn.“
  90. Der Passagier, am Galgen stehend,
  91. Hohläugig, mit zerbrochnem Muth,
  92. Zu jedem Räuber flüstert flehend:
  93. „Was tat dir mein unschuldig Bluth?
  94. Barmherzigkeit! – so muß ich sterben
  95. Durch des Gesindels Lügenwort,
  96. O, mög‘ die Seele euch verderben!“
  97. Da zieht ihn schon der Scherge fort.
  98. Er sieht die Menge wogend spalten –
  99. Er hört das Summen im Gewühl –
  100. Nun weiß er, daß des Himmels Walten
  101. Nur seiner Pfaffen Gaukelspiel!
  102. Und als er in des Hohnes Stolze
  103. Will starren nach den Aetherhöhn,
  104. Da liest er an des Galgens Holze:
  105. Batavia.FünfhundertZehn.“
Die Vergeltung von Annette von Droste-Hülshoff wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/droste-huelshoff/die-vergeltung/