Der Gefangene

eine Ballade von Joseph von Eichendorff
  1. In goldner Morgenstunde,
  2. Weil alles freudig stand,
  3. Da ritt im heitern Grunde
  4. Ein Ritter über Land.
  5. Rings sangen auf das Beste
  6. Die Vöglein mannichfalt,
  7. Es schüttelte die Aeste
  8. Vor Lust der grüne Wald.
  9. Den Nacken, stolz gebogen,
  10. Klopft er dem Rößelein –
  11. So ist er hingezogen
  12. Tief in den Wald hinein.
  13. Sein Roß hat er getrieben,
  14. Ihn trieb der frische Muth:
  15. „Ist alles fern geblieben,
  16. So ist mir wohl und gut!“
  17. Mit Freuden mußt’ er sehen
  18. Im Wald’ ein’ grüne Au,
  19. Wo Brünnlein kühle gehen,
  20. Von Blumen roth und blau.
  21. Vom Roß ist er gesprungen,
  22. Legt sich zum kühlen Bach,
  23. Die Wellen lieblich klungen,
  24. Das ganze Herz zog nach.
  25. So grüne war der Rasen,
  26. Es rauschte Bach und Baum,
  27. Sein Roß thät stille grasen
  28. Und alles wie ein Traum.
  29. Die Wolken sah er gehen,
  30. Die schifften immer zu,
  31. Er konnt’ nicht widerstehen, –
  32. Die Augen sanken ihm zu.
  33. Nun hört’ er Stimmen rinnen,
  34. Als wie der Liebsten Gruß,
  35. Er konnt’ sich nicht besinnen –
  36. Bis ihn erweckt ein Kuß.
  37. Wie prächtig glänzt die Aue!
  38. Wie Gold der Quell nun floß,
  39. Und einer süßen Fraue
  40. Lag er im weichen Schooß.
  41. „Herr Ritter! wollt Ihr wohnen
  42. Bei mir im grünen Haus:
  43. Aus allen Blumenkronen
  44. Wind’ ich Euch einen Strauß!
  45. Der Wald ringsum wird wachen,
  46. Wie wir beisammen seyn,
  47. Der Kukuk schelmisch lachen,
  48. Und alles fröhlich seyn.“
  49. Es bog ihr Angesichte
  50. Auf ihn den süßen Leib,
  51. Schaut mit den Augen lichte
  52. Das wunderschöne Weib.
  53. Sie nahm sein’n Helm herunter,
  54. Löst’ Krause ihm und Bund,
  55. Spielt’ mit den Locken munter,
  56. Küßt ihm den rothen Mund.
  57. Und spielt’ viel’ süße Spiele
  58. Wohl in geheimer Lust,
  59. Es flog so kühl und schwüle
  60. Ihm um die offne Brust.
  61. Um ihn nun thät sie schlagen
  62. Die Arme weich und bloß,
  63. Er konnte nichts mehr sagen,
  64. Sie ließ ihn nicht mehr los.
  65. Und diese Au zur Stunde
  66. Ward ein krystallnes Schloß,
  67. Der Bach ein Strom, gewunden
  68. Ringsum, gewaltig floß.
  69. Auf diesem Strome gingen
  70. Viel’ Schiffe wohl vorbei,
  71. Es konnt’ ihn keines bringen
  72. Aus böser Zauberei.
Der Gefangene von Joseph von Eichendorff wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/eichendorff/der-gefangene/