Omar

eine Ballade von Emanuel Geibel
  1. Inmitten seiner Turbankrieger,
  2. Die Stirne voll Gewitterschein,
  3. Zog Omar, der Kalif, als Sieger
  4. Ins Tor der Ptolemäer ein.
  5. Umrauscht von Mekkas Halbmondbannern,
  6. Ritt langsam er dahin im Zug,
  7. Ihm folgte mit den Bogenspannern
  8. Ein Negerschwarm, der Fackeln trug.
  9. Sie zogen durch die öden Gassen,
  10. Durch Siegestor und Säulengang,
  11. Drin klirrend nur der Schritt der Massen,
  12. Der Hengste Stampfen widerklang;
  13. Schon lenkte zu den Porphyrstufen
  14. Der alten Hofburg der Kalif,
  15. Da warf vor seines Rosses Hufen
  16. Ein Greis sich in den Staub und rief:
  17. »O Herr, der Sieger warst du heute,
  18. Und diese Stadt des Nils ist dein,
  19. So nimm als reiche Schlachtenbeute
  20. Ihr Gold und Erz und Elfenbein.
  21. Die Türme stürz in Schutt zusammen,
  22. Zerbrich den Bilderschmuck des Hains,
  23. Die Tempel selber gib den Flammen!
  24. Nur eins verschone, Herr, nur eins;
  25. Sieh hin! Wo dort die Sphinxe grollen
  26. Am Tor, die Hüter unsres Ruhms,
  27. Da schläft in hunderttausend Rollen
  28. Der Geisterhort des Altertums.
  29. Was, seit der Erdkreis aufgerichtet,
  30. In Tat und Wort sich offenbart,
  31. Was je gedacht ward und gedichtet,
  32. Dort liegt’s der Nachwelt aufbewahrt.
  33. O gib den Schatz, aus allen Reichen
  34. Der Welt gehäuft mit treuem Fleiß,
  35. Gib dies Vermächtnis ohnegleichen,
  36. Der Menschheit Erbteil gib nicht preis!
  37. Nein, heilig sei auch dir die Stätte,
  38. Die jede Muse fromm geweiht,
  39. Streck drüber deine Hand und rette
  40. Der Zukunft die Vergangenheit!«
  41. Doch Omar zieht die Stirn in Falten
  42. Und spricht, indem sein Auge flammt:
  43. »Ich bin genaht, Gericht zu halten,
  44. Was drängst du, Tor, dich in mein Amt?
  45. Hinweg, daß meines Zorns Geloder
  46. Nicht dich samt deinen Rollen trifft!
  47. Die Schätze, die du rühmst, sind Moder
  48. Und was du Weisheit nennst, ist Gift.
  49. Schon allzulang am unfruchtbaren
  50. Vielwissen siecht die Welt erschlafft;
  51. Der Staub von mehr als tausend Jahren
  52. Liegt wie ein Alp auf jeder Kraft.
  53. Des Lebens Baum ließ ab zu lauben,
  54. Seit dran der Wurm des Zweifels zehrt:
  55. Wo ist ein Herz noch, frisch zum Glauben!
  56. Wo ist ein Arm noch, stark zum Schwert!
  57. Daß endlich diese Dumpfheit ende,
  58. Bin ich gesandt, vom Herrn ein Blitz.
  59. Auf! Schleudert denn die Feuerbrände
  60. In der verjährten Krankheit Sitz!
  61. Und wenn, umwogt vom Flammenmeere,
  62. Der aufgetürmte Wust zergeht,
  63. Ruft: Gott ist groß! Ihm sei die Ehre!
  64. Und Mahomed ist sein Prophet!«
Omar von Emanuel Geibel wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/geibel/omar/