Der Gott und die Bajadere

eine Ballade von Johann Wolfgang von Goethe
  1. Mahadöh, der Herr der Erde,
  2. Kommt herab zum sechstenmal,
  3. Dass er uns’res gleichen werde,
  4. Mit zu fühlen Freud’ und Qual.
  5. Er bequemt sich hier zu wohnen,
  6. Lässt sich alles selbst geschehn.
  7. Soll er strafen oder schonen,
  8. Muss er Menschen menschlich sehn.
  9. Und hat er die Stadt sich als Wandrer betrachtet,
  10. Die Grossen belauert, auf Kleine geachtet,
  11. Verlässt er sie Abends, um weiter zu gehn.

  12. Als er nun hinaus gegangen,
  13. Wo die letzten Häuser sind,
  14. Sieht er, mit gemalten Wangen,
  15. Ein verlornes schönes Kind.
  16. „Grüss’ dich, Jungfrau!“ – „Dank der Ehre!
  17. Wart’, ich komme gleich hinaus – “
  18. „Und wer bist du?“ – „Bajadere,
  19. Und dies ist der Liebe Haus.“
  20. Sie rührt sich, die Cimbeln zum Tanze du schlagen;
  21. Sie weiss sich so lieblich im Kreise zu tragen,
  22. Sie neigt sich und biegt sich, und reicht ihm den Strauss.

  23. Schmeichelnd zieht sie ihn zur Schwelle,
  24. Lebhaft ihn ins Haus hinein.
  25. „Schöner Fremdling, lampenhelle
  26. Soll sogleich die Hütte sein.
  27. Bist du müd’, ich will dich laben,
  28. Lindern deiner Füsse Schmerz.
  29. Was du willst, das sollst du haben,
  30. Ruhe, Freuden oder Scherz.“
  31. Sie lindert geschäftig geheuchelte Leiden.
  32. Der Göttliche lächelt; er siehet mit Freuden,
  33. Durch tiefes Verderben, ein menschliches Herz.

  34. Und er fordert Sklavendienste;
  35. Immer heitrer wird sie nur,
  36. Und des Mädchens frühe Künste
  37. Werden nach und nach Natur.
  38. Und so stellet auf die Blüte
  39. Bald und bald die Frucht sich ein;
  40. Ist Gehorsam im Gemüte,
  41. Wird nicht fern die Liebe sein.
  42. Aber, sie schärfer und schärfer zu prüfen,
  43. Wählet der Kenner der Höhen und Tiefen
  44. Lust und Entsetzen und grimmige Pein.

  45. Und er küsst die bunten Wangen,
  46. Und sie fühlt der Liebe Qual,
  47. Und das Mädchen steht gefangen,
  48. Und sie weint zum erstenmal;
  49. Sinkt zu seinen Füssen nieder,
  50. Nicht um Wollust noch Gewinnst,
  51. Ach! die gelenken Glieder,
  52. Sie versagen allen Dienst.
  53. Und so zu des Lagers vergnüglicher Feier
  54. Bereiten den dunklen behaglichen Schleier
  55. Die nächtlichen Stunden, das schöne Gespinst.
  56. Spät entschlummert, unter Scherzen,
  57. Früh erwacht, nach kurzer Rast,
  58. Findet sie an ihrem Herzen
  59. Tod den vielgeliebten Gast.
  60. Schreiend stürzt sie auf ihn nieder;
  61. Aber nicht erweckt sie ihn,
  62. Und man trägt die starren Glieder
  63. Bald zur Flammengrube hin.
  64. Sie höret die Priester, die Totengesänge,
  65. Sie raset und rennet, und teilet die Menge.
  66. „Wer bist du? was drängt zu der Grube dich hin?“
  67. Bei der Bahre stürzt sie nieder,
  68. Ihr Geschrei durchdringt die Luft:
  69. „Meinen Gatten will ich wieder!
  70. Und ich such’ ihn in der Gruft.
  71. Soll zur Asche mir zerfallen
  72. Dieser Glieder Götterpracht?
  73. Mein! er war es, mein vor allen!
  74. Ach, nur eine süsse Nacht!“
  75. Es singen die Priester: „Wir tragen die Alten,
  76. Nach langem Ermatten und spätem Erkalten,
  77. Wir tragen die Jugend, noch eh’ sie’s gedacht.
  78. „Höre deiner Priester Lehre:
  79. Dieser war dein Gatte nicht.
  80. Lebst du doch als Bajadere,
  81. Und so hast du keine Pflicht.
  82. Nur dem Körper folgt der Schatten
  83. In das stille Totenreich;
  84. Nur die Gattin folgt dem Gatten:
  85. Das ist Pflicht und Ruhm zugleich.
  86. Ertöne, Drommete, zu heiliger Klage!
  87. O, nehmet, ihr Götter! die Zierde der Tage,
  88. O, nehmet den Jüngling in Flammen zu euch!“
  89. So das Chor, das ohn’ Erbarmen
  90. Mehret ihres Herzens Not;
  91. Und mit ausgestreckten Armen
  92. Springt sie in den heissen Tod.
  93. Doch der Götter-Jüngling hebet
  94. Aus der Flamme sich empor,
  95. Und in seinen Armen schwebet
  96. Die Geliebte mit hervor.
  97. Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder;
  98. Unsterbliche heben verlorene Kinder
  99. Mit feurigen Armen zum Himmel empor.
Der Gott und die Bajadere von Johann Wolfgang von Goethe wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/goethe/der-gott-und-die-bajadere/