- Mahadöh, der Herr der Erde,
- Kommt herab zum sechstenmal,
- Dass er uns’res gleichen werde,
- Mit zu fühlen Freud’ und Qual.
- Er bequemt sich hier zu wohnen,
- Lässt sich alles selbst geschehn.
- Soll er strafen oder schonen,
- Muss er Menschen menschlich sehn.
- Und hat er die Stadt sich als Wandrer betrachtet,
- Die Grossen belauert, auf Kleine geachtet,
- Verlässt er sie Abends, um weiter zu gehn.
- Als er nun hinaus gegangen,
- Wo die letzten Häuser sind,
- Sieht er, mit gemalten Wangen,
- Ein verlornes schönes Kind.
- „Grüss’ dich, Jungfrau!“ – „Dank der Ehre!
- Wart’, ich komme gleich hinaus – “
- „Und wer bist du?“ – „Bajadere,
- Und dies ist der Liebe Haus.“
- Sie rührt sich, die Cimbeln zum Tanze du schlagen;
- Sie weiss sich so lieblich im Kreise zu tragen,
- Sie neigt sich und biegt sich, und reicht ihm den Strauss.
- Schmeichelnd zieht sie ihn zur Schwelle,
- Lebhaft ihn ins Haus hinein.
- „Schöner Fremdling, lampenhelle
- Soll sogleich die Hütte sein.
- Bist du müd’, ich will dich laben,
- Lindern deiner Füsse Schmerz.
- Was du willst, das sollst du haben,
- Ruhe, Freuden oder Scherz.“
- Sie lindert geschäftig geheuchelte Leiden.
- Der Göttliche lächelt; er siehet mit Freuden,
- Durch tiefes Verderben, ein menschliches Herz.
- Und er fordert Sklavendienste;
- Immer heitrer wird sie nur,
- Und des Mädchens frühe Künste
- Werden nach und nach Natur.
- Und so stellet auf die Blüte
- Bald und bald die Frucht sich ein;
- Ist Gehorsam im Gemüte,
- Wird nicht fern die Liebe sein.
- Aber, sie schärfer und schärfer zu prüfen,
- Wählet der Kenner der Höhen und Tiefen
- Lust und Entsetzen und grimmige Pein.
- Und er küsst die bunten Wangen,
- Und sie fühlt der Liebe Qual,
- Und das Mädchen steht gefangen,
- Und sie weint zum erstenmal;
- Sinkt zu seinen Füssen nieder,
- Nicht um Wollust noch Gewinnst,
- Ach! die gelenken Glieder,
- Sie versagen allen Dienst.
- Und so zu des Lagers vergnüglicher Feier
- Bereiten den dunklen behaglichen Schleier
- Die nächtlichen Stunden, das schöne Gespinst.
- Spät entschlummert, unter Scherzen,
- Früh erwacht, nach kurzer Rast,
- Findet sie an ihrem Herzen
- Tod den vielgeliebten Gast.
- Schreiend stürzt sie auf ihn nieder;
- Aber nicht erweckt sie ihn,
- Und man trägt die starren Glieder
- Bald zur Flammengrube hin.
- Sie höret die Priester, die Totengesänge,
- Sie raset und rennet, und teilet die Menge.
- „Wer bist du? was drängt zu der Grube dich hin?“
- Bei der Bahre stürzt sie nieder,
- Ihr Geschrei durchdringt die Luft:
- „Meinen Gatten will ich wieder!
- Und ich such’ ihn in der Gruft.
- Soll zur Asche mir zerfallen
- Dieser Glieder Götterpracht?
- Mein! er war es, mein vor allen!
- Ach, nur eine süsse Nacht!“
- Es singen die Priester: „Wir tragen die Alten,
- Nach langem Ermatten und spätem Erkalten,
- Wir tragen die Jugend, noch eh’ sie’s gedacht.
- „Höre deiner Priester Lehre:
- Dieser war dein Gatte nicht.
- Lebst du doch als Bajadere,
- Und so hast du keine Pflicht.
- Nur dem Körper folgt der Schatten
- In das stille Totenreich;
- Nur die Gattin folgt dem Gatten:
- Das ist Pflicht und Ruhm zugleich.
- Ertöne, Drommete, zu heiliger Klage!
- O, nehmet, ihr Götter! die Zierde der Tage,
- O, nehmet den Jüngling in Flammen zu euch!“
- So das Chor, das ohn’ Erbarmen
- Mehret ihres Herzens Not;
- Und mit ausgestreckten Armen
- Springt sie in den heissen Tod.
- Doch der Götter-Jüngling hebet
- Aus der Flamme sich empor,
- Und in seinen Armen schwebet
- Die Geliebte mit hervor.
- Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder;
- Unsterbliche heben verlorene Kinder
- Mit feurigen Armen zum Himmel empor.
Der Gott und die Bajadere
… eine Ballade von Johann Wolfgang von GoetheDer Gott und die Bajadere von Johann Wolfgang von Goethe wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/goethe/der-gott-und-die-bajadere/
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