- Als noch, verkannt und sehr gering,
- unser Herr auf der Erde ging,
- und viele Jünger sich zu ihm fanden,
- die sehr selten sein Wort verstanden,
- liebt‘ er sich gar über die Maßen,
- seinen Hof zu halten auf der Straßen,
- weil unter des Himmels Angesicht
- man immer besser und freier spricht.
- Er ließ sie da die höchsten Lehren
- aus seinem heiligen Munde hören;
- besonders durch Gleichnis und Exempel
- macht‘ er einen jeden Markt zum Tempel.
- So schlendert‘ er in Geistes Ruh‘
- mit ihnen einst einem Städtchen zu,
- sah etwas blinken auf der Straß‘,
- das ein zerbrochen Hufeisen was.
- Er sagte zu Sankt Peter drauf:
- „Heb doch einmal das Eisen auf!“
- Sankt Peter war nicht aufgeräumt,
- er hatte soeben im Gehen geträumt,
- so was vom Regiment der Welt,
- was einem jeden wohlgefällt:
- Denn im Kopf hat das keine Schranken;
- das waren so seine liebsten Gedanken.
- Nun war der Fund ihm viel zu klein,
- hätte müssen Kron‘ und Zepter sein;
- aber wie sollt‘ er seinen Rücken
- nach einem halben Hufeisen bücken?
- Er also sich zur Seite kehrt
- und tut, als hätt‘ er’s nicht gehört.
- Der Herr nach seiner Langmut drauf
- hebt selber das Hufeisen auf
- und tut auch weiter nicht dergleichen.
- Als sie nun bald die Stadt erreichen,
- geht er vor eines Schmiedes Tür,
- nimmt von dem Mann drei Pfennig dafür.
- Und als sie über den Markt nun gehen,
- sieht er daselbst schöne Kirschen stehen,
- kauft ihrer, so wenig oder so viel,
- als man für einen Dreier geben will,
- die er sodann nach seiner Art
- ruhig im Ärmel aufbewahrt.
- Nun ging’s zum andern Tor hinaus,
- durch Wies‘ und Felder ohne Haus;
- auch war der Weg von Bäumen bloß,
- die Sonne schien, die Hitz‘ war groß,
- so daß man viel an solcher Stätt‘
- für einen Trunk Wasser gegeben hätt‘.
- Der Herr geht immer voraus vor allen,
- läßt unversehens eine Kirsche fallen.
- Sankt Peter war gleich dahinter her,
- als wenn es ein goldner Apfel wär‘;
- das Beerlein schmeckte seinem Gaum!
- Der Herr nach einem kleinen Raum
- ein ander Kirschlein zur Erde schickt,
- wonach Sankt Peter schnell sich bückt.
- So läßt der Herr ihn seinen Rücken
- gar vielmal nach den Kirschen bücken.
- Das dauert eine ganze Zeit.
- Dann sprach der Herr mit Heiterkeit:
- „Tätst du zur rechten Zeit dich regen,
- hättst du’s bequemer haben mögen.
- Wer geringe Ding‘ wenig acht’t,
- sich um geringere Mühe macht.“
Legende vom Hufeisen
… eine Ballade von Johann Wolfgang von GoetheLegende vom Hufeisen von Johann Wolfgang von Goethe wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/goethe/legende-vom-hufeisen/
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