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- Am Fenster stand die Mutter,
- Im Bette lag der Sohn.
- »Willst du nicht aufstehn, Wilhelm,
- Zu schaun die Prozession?«
- »Ich bin so krank, o Mutter,
- Daß ich nicht hör und seh;
- Ich denk an das tote Gretchen,
- Da tut das Herz mir weh.« –
- »Steh auf, wir wollen nach Kevlaar,
- Nimm Buch und Rosenkranz;
- Die Mutter Gottes heilt dir
- Dein krankes Herze ganz.«
- Es flattern die Kirchenfahnen,
- Es singt im Kirchenton;
- Das ist zu Köllen am Rheine,
- Da geht die Prozession.
- Die Mutter folgt der Menge,
- Den Sohn, den führet sie,
- Sie singen beide im Chore:
- Gelobt seist du Marie!
- Die Mutter Gottes zu Kevlaar
- Trägt heut ihr bestes Kleid;
- Heut hat sie viel zu schaffen,
- Es kommen viel kranke Leut.
- Die kranken Leute bringen
- Ihr dar, als Opferspend,
- Aus Wachs gebildete Glieder,
- Viel wächserne Füß und Händ.
- Und wer eine Wachshand opfert,
- Dem heilt an der Hand die Wund;
- Und wer einen Wachsfuß opfert,
- Dem wird der Fuß gesund.
- Nach Kevlaar ging mancher auf Krücken,
- Der jetzo tanzt auf dem Seil,
- Gar mancher spielt jetzt die Bratsche,
- Dem dort kein Finger war heil.
- Die Mutter nahm ein Wachslicht,
- Und bildete draus ein Herz.
- »Bring das der Mutter Gottes,
- Dann heilt sie deinen Schmerz.«
- Der Sohn nahm seufzend das Wachsherz,
- Ging seufzend zum Heilgenbild;
- Die Träne quillt aus dem Auge,
- Das Wort aus dem Herzen quillt:
- »Du hochgebenedeite,
- Du reine Gottesmagd,
- Du Königin des Himmels,
- Dir sei mein Leid geklagt!
- Ich wohnte mit meiner Mutter
- Zu Köllen in der Stadt,
- Der Stadt, die viele hundert
- Kapellen und Kirchen hat.
- Und neben uns wohnte Gretchen,
- Doch die ist tot jetzund –
- Marie, dir bring ich ein Wachsherz,
- Heil du meine Herzenswund.
- Heil du mein krankes Herze –
- Ich will auch spät und früh
- Inbrünstiglich beten und singen:
- Gelobt seist du, Marie!«
- Der kranke Sohn und die Mutter,
- Die schliefen im Kämmerlein;
- Da kam die Mutter Gottes
- Ganz leise geschlichen herein.
- Sie beugte sich über den Kranken,
- Und legte ihre Hand
- Ganz leise auf sein Herze,
- Und lächelte mild und schwand.
- Die Mutter schaut alles im Traume,
- Und hat noch mehr geschaut;
- Sie erwachte aus dem Schlummer,
- Die Hunde bellten so laut.
- Da lag dahingestrecket
- Ihr Sohn, und der war tot;
- Es spielt auf den bleichen Wangen
- Das lichte Morgenrot.
- Die Mutter faltet die Hände,
- Ihr war, sie wußte nicht wie;
- Andächtig sang sie leise:
- Gelobt seist du, Marie!
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