- Wenn ich das Tollkraut dir vom Munde pflücke,
- Das mir den Sinn verwirrt, und so umgraut
- Von Nacht und Glück, mich treffen deine Blicke,
- Frag‘ ich mich oft: Wo hab ich doch geschaut
- Ein Auge, so wie dies, nicht zu ergründen?
- Ein Auge war’s, das nie ein Gram betaut,
- Ein Blick, wie aus den tiefsten Todesschlünden,
- Der, seelenlos die Seele magisch zwang,
- Kalt und doch mächtig, Fieber zu entzünden,
- Daß ich hinein mich tauchte stundenlang,
- Als leucht‘ ein Weltgeheimnis mir entgegen,
- Unheimlich, unaussprechlich trüb und bang;
- Wie tote Flammen im Smaragd sich regen,
- Wie Meeresleuchten aus der Tiefe sprüht,
- Goldadern glühn auf unterirdschen Wegen.
- Und heute, da ich einsam im Gemüt
- Zurückesann, stand mir’s auf einen Schlag
- Vor Augen wieder, was mich lang bemüht.
- Ich hatt‘ am heißen Frühlingsnachmittag
- In Roms Campagna schweifend mich verirrt,
- Da ein Gewitter dumpf in Lüften lag.
- Kein Schattendach, nicht Herde, Hund und Hirt,
- Kein Vogelruf, kein Laut, als der Zikade
- Eintönig Ritornell, das heiser schwirrt.
- Und ich, erschöpft vom Wandern, wo sich grade
- Ein Sitz mir bot, streckt ich die Glieder hin,
- Erwartend, daß die Schwüle sich entlade.
- Mir war so weltentrückt, so fremd zu Sinn,
- So fern von allem Heimlichen und Schönen;
- Vergehn und Nichtsein schien allein Gewinn.
- Und plötzlich weckte mich ein heftig Dröhnen;
- In Flammen lodernd stand das Firmament
- Und Sturm fuhr übers öde Feld mit Stöhnen.
- Und wie ein neuer Blitz die Wolken trennt,
- Seh ich, dicht vor mir, eine braune Schlange
- Auf dornumranktem Felsen-Postament.
- Geringelt lag sie da – wer sagt, wie lange?
- Die grauen Augen traurig und erstaunt
- Auf mich geheftet, die geschuppte Wange
- Dicht auf den Stein gedrückt, nicht wohlgelaunt,
- Doch müde, schien’s, und ohne Mordbegier,
- Vielleicht vom Donnerton in Schlaf geraunt.
- Und ich blieb still. Der Atem stockte mir;
- Ich mußt‘ in dies gefeite Auge schauen,
- Und so wohl eine Stunde ruhten wir.
- Da erst begann die Wolkennacht zu tauen.
- Sacht stand ich auf, Sie aber, regungslos,
- Blieb, wo sie war. Ich wandte mich voll Grauen.
- Furchtbar vom Himmel rauschte das Getos
- Des Lenzorkans. Doch wie die Blitze flammten,
- Ich sah im Geist das Schlangenauge bloß.
- So, dacht, ich, glühn die Augen der Verdammten,
- Die niederfahren aller Hoffnung bar,
- Für immer fern dem Licht, dem sie entstammten;
- So blickt, Erlösung hoffend immerdar,
- Die niedre Kreatur mit stummem Flehen,
- Der eine Seele nicht erschaffen war.
- Und erst bei milder Herbsteslüfte Wehn,
- Sooft auch früher ein Gelüst sich regte,
- Könnt‘ ich hinaus, die Stätte wiedersehn.
- Ich fand den Ort, wo ich mich niederlegte,
- Und – wundersam! da ruhte noch das Tier,
- Das Auge offen, das sich nicht bewegte.
- Mich faßt‘ ein Schauer. Hat die Feindin hier
- Gelauert sommerlang, mich doch zu fassen?
- Und wieder Aug‘ in Auge staunten wir.
- Und feige schien mir’s, ihr das Feld zu lassen.
- Ich schlug nach ihr; da fielen ihre Ringe
- In Staub. Nur aus dem Auge, das gelassen
- Ins Leere stierte, war mir’s, als entschwinge
- Sich ein gefangner Blitz. Da ließ ich sie,
- Daß sie nicht noch im Tode mich bezwinge:
- Doch ihren Scheideblick vergaß ich nie.
Die Schlange
… eine Ballade von Paul HeyseDie Schlange von Paul Heyse wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/heyse/die-schlange/
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