- Sie kannten sich beide von Angesicht,
- Sie sprachen sich nie und liebten sich nicht.
- Er nahm ein Weib, das die Mutter ihm wählte,
- Als sie sich mit einem Vetter vermählte.
- Er war zufrieden mit seinem Los;
- Sie wähnte sich recht in des Glückes Schoß.
- Nur manchmal, zur Zeit der Fliederblüte,
- Was wollte da knospen in ihrem Gemüte?
- Und einst nach Jahren am dritten Ort
- Da sagten sie sich das erste Wort,
- Am selben Tische zum ersten Male –
- Der Flieder duftet‘ herein zum Saale.
- Was er sie gefragt, was sie ihm gesagt,
- Es war nicht neu und war nicht gewagt;
- Doch plötzlich, mitten im Plaudern und Scherzen,
- Erschraken sie beide im tiefsten Herzen.
- Sie hatten mit tödlichem Staunen erkannt,
- Wie seltsam eins das andre verstand,
- Auch das, was beiden im stillen Gemüte
- Erwachte zur Zeit der Fliederblüte.
- Sie sahen sich an einen Augenblick
- Und sahn einen Abgrund von Mißgeschick,
- Dann blickten sie weg, und beide verstummten,
- So munter rings die Gespräche summten.
- Drauf ging sie nach Haus mit dem eigenen Mann,
- Er führte sein Weib, so schieden sie dann
- Und sagten, sie würden sich glücklich schätzen,
- Die werte Bekanntschaft fortzusetzen.
- Doch wie er am andern Morgen erwacht,
- Was hat ihn so bitter lachen gemacht?
- Und wie sie auffuhr von ihrem Kissen,
- Was hat sie so heimlich weinen müssen?
- Sie haben sich niemals wiedergesehn,
- Sie wußten sich klug aus dem Weg zu gehn.
- Nur immer zur Zeit der Fliederblüte
- Wie Spätfrost schauert’s durch ihr Gemüte.
Novelle
… eine Ballade von Paul HeyseNovelle von Paul Heyse wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/heyse/novelle/
Quelle: https://balladen.net/heyse/novelle/