Die kleine Passion

eine Ballade von Gottfried Keller
  1. Der sonnige Duft, Semptemberluft,
  2. sie wehten ein Mücklein mir aufs Buch.
  3. Das suchte sich die Ruhegruft
  4. und fern vom Wald sein Leichentuch.
  5. Vier Flügelein von Seiden fein
  6. trug’s auf dem Rücken zart,
  7. drin man im Regenbogenschein
  8. spielendes Licht gewahrt!
  9. Hellgrün das schlanke Leibchen war,
  10. hellgrün der Füßchen dreifach Paar,
  11. und auf dem Köpfchen wundersam
  12. saß ein Federbüschchen stramm;
  13. die Äuglein wie ein goldnes Erz
  14. glänzten mir in das tiefste Herz.
  15. Dies zierliche und manierliche Wesen
  16. hatt‘ sich zu Gruft und Leichentuch
  17. das glänzende Papier erlesen,
  18. darin ich las, ein dichterliches Buch;
  19. so ließ den Band ich aufgeschlagen
  20. und sah erstaunt dem Sterben zu,
  21. wie langsam, langsam ohne Klagen
  22. das Tierlein kam zu seiner Ruh.
  23. Drei Tage ging es müd und matt
  24. umher auf dem Papiere;
  25. die Flügelein von Seide fein,
  26. sie glänzten alle viere.
  27. Am vierten Tage stand es still
  28. gerade auf dem Wörtlein „will“!
  29. Gar tapfer stand’s auf selbem Raum,
  30. hob je ein Füßchen wie im Traum;
  31. am fünften Tage legt‘ es sich,
  32. doch noch am sechsten regt‘ es sich;
  33. am siebten endlich siegt‘ der Tod,
  34. da war zu Ende seine Not.
  35. Nun ruht im Buch sein leicht Gebein,
  36. mög‘ uns sein Frieden eigen sein!
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Quelle: https://balladen.net/keller/die-kleine-passion/