- Da liegt ein Blatt, von meiner Hand beschrieben
- In Tagen, die nun lang dahin geschwunden,
- So lang, daß halb verblich die flücht’ge Schrift.
- Doch wie ich lese, wird ein Unterfangen,
- Ein wunderliches, wieder mir lebendig,
- Das mich befiel in wunderlicher Zeit,
- Als schnödes Abenteuer mächtig herrschte
- Und frech die Welt zum Abenteuer schuf.
- Was während eines Mondes kurzer Dauer
- Von tollem Spuk und schrecklichem Geschehen,
- Merkwürd’gem Wagnis und ruchloser That
- Die Zeitung brachte, von versunknen Schiffen,
- Mit schwerem Gold und brüllendem Volk beladen,
- Von dreh’nden Tischen, dran die Thorheit saß,
- Von Schlachtenlärm und diebischen Marschällen,
- Von falschem Gift, durch weiße Hand gemischt:
- Das dacht‘ ich rhythmisch wogend zu verflechten
- In einen wild rhapsodischen Gesang,
- Gleich einem Wandrer, der bestäubt und keuchend
- Dem tobenden Gewühl mit Not entrann
- Und seinen Fiebertraum voll Hast erzählt.
- So schrieb ich mir auf Blätter jede Kunde,
- Und nicht im Stich fürwahr ließ mich die Zeitung,
- Jedoch die Lust, die mir gemach verging.
- Dies gelbe Blatt nur hat sich noch erhalten.
- Ein Lächeln will beim Anblick mich beschleichen,
- Das wandelt aber sich sogleich in Ernst.
- Es steht ein Richterspruch darauf verzeichnet
- Und eine That so dunkel traur’ger Art,
- Daß wie von selbst die Hand zum Stifte greift,
- Das blut’ge Rätsel doch noch festzubannen.
- In Franken war’s, an stillem Sommertage,
- Daß eine Frau ihr kleines liebes Bübchen
- Mit Korb und Vesperbrot zum Vater sandte,
- Der im Gehölze, mäßig weit, im Schweiße
- Des Angesichts an seiner Arbeit stand.
- Sie wußte, daß er heut‘ ein hartes Lohnwerk
- Vollbringen wollte bis zur Dunkelzeit.
- Ein mütterlicher kleiner Uebermut
- Verlockte sie, das Wagnis zu versuchen
- Und mit dem Bötlein ihren Eh’kumpan
- Zu überraschen dieses erste Mal;
- Denn Sonntag war es morgen und im Hause
- Blieb ihr zu schaffen übrig noch genug.
- Das Knäblein aber sträubte sich zu gehen,
- Gewohnt, nur an der Mutter stets zu hangen
- Und sie um tausend Dinge zu befragen
- Mit Schmeichelwörtchen, lind im Singeton.
- «Geh‘ nur,» sprach sie, «die Mundharmonika
- Geb‘ ich dir mit, mein Söhnchen, und drauf spielen
- Wirst du gar herrlich auf dem ganzen Wege;
- Der Vater ruft: Was hör‘ ich für Musik?
- Gewiß marschiert ein Regiment Soldaten!
- Wie lacht er aber, wenn sein Hänschen kommt!»
- Und da sie aus dem Schrank das Instrumentchen,
- Das dort zur Schonung sorglich aufgehoben,
- Hervorholt, faßt es gleich der frohe Kleine
- Und schreitet wacker, seinen Korb am Arm,
- Ins helle Sommerland, die wen’gen Stimmchen
- An seinen Lippen unverweilt erprobend
- Und stets aufs neue reihend Ton an Ton.
- Schon weit ist er; doch über Korn und Klee
- Tönt weich und sanft, wie all‘ der blaue Himmel,
- Sein einfach Lied nun aus dem Feld herüber;
- Der Kinderpuls, ein Lufthauch und die Ferne,
- Sie schaffen eine rührend zarte Weise,
- Die, fast verwehend jetzt, dann leise schwillt.
- Und weil die Mutter hier noch steht und horcht
- Und denkt, nun hat er wohl den Forst betreten,
- Vernimmt der Vater drüben schon die Töne
- Und kennt sein Vögelchen an dem Gesang.
- Er lauscht erfreut – auf einmal bricht es ab,
- Und stumm bleibt ewig dieser Kindermund!
- Kein Knäblein kommt zum Vater, keines kehrt
- Zur Mutter abends mit dem Müden wieder.
- Nach dreien Tagen erst zog man das Kind
- Mit eingeschlag’nem Haupt aus einem Wasser,
- Das tückisch hehlend, dunkel, unbeweglich,
- Abseits vom Pfad im Waldesschatten lag.
- Der Mörder auch ward bald darauf ergriffen;
- Es war ein starker Bursch von achtzehn Jahren,
- Fast unbekannt, der, lungernd in der Stadt,
- Mißtrauisch spielend auf dem Oerglein blies,
- Das ihn verriet. Dann vor dem Richter stehend,
- Von dessen Kunst bedrängt, erzählt er mürrisch,
- Wie er das Kind im Holze angetroffen
- Und es gebeten, ihm das Ding zu leihen
- Für einen Augenblick, sich dran zu laben;
- Denn eine unbezwinglich starke Lust
- Hab‘ ihn schon lang gequält, auf solchem Werklein
- Ein einzig Mal sich blasend zu vergnügen.
- Kopfschüttelnd hab‘ das Knäblein fortgespielt,
- Er aber es mit einem Stein erschlagen.
- Und weiter ward die Kunde beigebracht,
- Wie daß vor Jahren schon in seiner Heimat
- Der Unhold von der zarten Kinderwelt
- Als Spielzeugräuber sei gefürchtet worden;
- Die trauten Plätze, Flure, Hofgebreiten,
- Wo sich das kleine Volk zur Lust versammelt:
- Der große Range habe finsterlauernd
- Beschlichen sie und von dem bunten Werkzeug
- Der Jugend sich gewaltsam angeeignet,
- Was ihm gefiel, dann in entleg’nen Winkeln
- Einsam, mit ungeschickter Hand gespielt.
- Der Wahrspruch fiel, die Sühne ward bemessen;
- Doch aus der Unthat wurde keiner klug.
Ein Schwurgericht
… eine Ballade von Gottfried KellerEin Schwurgericht von Gottfried Keller wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/keller/ein-schwurgericht/
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