Ein Schwurgericht

eine Ballade von Gottfried Keller
  1. Da liegt ein Blatt, von meiner Hand beschrieben
  2. In Tagen, die nun lang dahin geschwunden,
  3. So lang, daß halb verblich die flücht’ge Schrift.
  4. Doch wie ich lese, wird ein Unterfangen,
  5. Ein wunderliches, wieder mir lebendig,
  6. Das mich befiel in wunderlicher Zeit,
  7. Als schnödes Abenteuer mächtig herrschte
  8. Und frech die Welt zum Abenteuer schuf.
  9. Was während eines Mondes kurzer Dauer
  10. Von tollem Spuk und schrecklichem Geschehen,
  11. Merkwürd’gem Wagnis und ruchloser That
  12. Die Zeitung brachte, von versunknen Schiffen,
  13. Mit schwerem Gold und brüllendem Volk beladen,
  14. Von dreh’nden Tischen, dran die Thorheit saß,
  15. Von Schlachtenlärm und diebischen Marschällen,
  16. Von falschem Gift, durch weiße Hand gemischt:
  17. Das dacht‘ ich rhythmisch wogend zu verflechten
  18. In einen wild rhapsodischen Gesang,
  19. Gleich einem Wandrer, der bestäubt und keuchend
  20. Dem tobenden Gewühl mit Not entrann
  21. Und seinen Fiebertraum voll Hast erzählt.
  22. So schrieb ich mir auf Blätter jede Kunde,
  23. Und nicht im Stich fürwahr ließ mich die Zeitung,
  24. Jedoch die Lust, die mir gemach verging.
  25. Dies gelbe Blatt nur hat sich noch erhalten.
  26. Ein Lächeln will beim Anblick mich beschleichen,
  27. Das wandelt aber sich sogleich in Ernst.
  28. Es steht ein Richterspruch darauf verzeichnet
  29. Und eine That so dunkel traur’ger Art,
  30. Daß wie von selbst die Hand zum Stifte greift,
  31. Das blut’ge Rätsel doch noch festzubannen.
  32. In Franken war’s, an stillem Sommertage,
  33. Daß eine Frau ihr kleines liebes Bübchen
  34. Mit Korb und Vesperbrot zum Vater sandte,
  35. Der im Gehölze, mäßig weit, im Schweiße
  36. Des Angesichts an seiner Arbeit stand.
  37. Sie wußte, daß er heut‘ ein hartes Lohnwerk
  38. Vollbringen wollte bis zur Dunkelzeit.
  39. Ein mütterlicher kleiner Uebermut
  40. Verlockte sie, das Wagnis zu versuchen
  41. Und mit dem Bötlein ihren Eh’kumpan
  42. Zu überraschen dieses erste Mal;
  43. Denn Sonntag war es morgen und im Hause
  44. Blieb ihr zu schaffen übrig noch genug.
  45. Das Knäblein aber sträubte sich zu gehen,
  46. Gewohnt, nur an der Mutter stets zu hangen
  47. Und sie um tausend Dinge zu befragen
  48. Mit Schmeichelwörtchen, lind im Singeton.
  49. «Geh‘ nur,» sprach sie, «die Mundharmonika
  50. Geb‘ ich dir mit, mein Söhnchen, und drauf spielen
  51. Wirst du gar herrlich auf dem ganzen Wege;
  52. Der Vater ruft: Was hör‘ ich für Musik?
  53. Gewiß marschiert ein Regiment Soldaten!
  54. Wie lacht er aber, wenn sein Hänschen kommt!»
  55. Und da sie aus dem Schrank das Instrumentchen,
  56. Das dort zur Schonung sorglich aufgehoben,
  57. Hervorholt, faßt es gleich der frohe Kleine
  58. Und schreitet wacker, seinen Korb am Arm,
  59. Ins helle Sommerland, die wen’gen Stimmchen
  60. An seinen Lippen unverweilt erprobend
  61. Und stets aufs neue reihend Ton an Ton.
  62. Schon weit ist er; doch über Korn und Klee
  63. Tönt weich und sanft, wie all‘ der blaue Himmel,
  64. Sein einfach Lied nun aus dem Feld herüber;
  65. Der Kinderpuls, ein Lufthauch und die Ferne,
  66. Sie schaffen eine rührend zarte Weise,
  67. Die, fast verwehend jetzt, dann leise schwillt.
  68. Und weil die Mutter hier noch steht und horcht
  69. Und denkt, nun hat er wohl den Forst betreten,
  70. Vernimmt der Vater drüben schon die Töne
  71. Und kennt sein Vögelchen an dem Gesang.
  72. Er lauscht erfreut – auf einmal bricht es ab,
  73. Und stumm bleibt ewig dieser Kindermund!
  74. Kein Knäblein kommt zum Vater, keines kehrt
  75. Zur Mutter abends mit dem Müden wieder.
  76. Nach dreien Tagen erst zog man das Kind
  77. Mit eingeschlag’nem Haupt aus einem Wasser,
  78. Das tückisch hehlend, dunkel, unbeweglich,
  79. Abseits vom Pfad im Waldesschatten lag.
  80. Der Mörder auch ward bald darauf ergriffen;
  81. Es war ein starker Bursch von achtzehn Jahren,
  82. Fast unbekannt, der, lungernd in der Stadt,
  83. Mißtrauisch spielend auf dem Oerglein blies,
  84. Das ihn verriet. Dann vor dem Richter stehend,
  85. Von dessen Kunst bedrängt, erzählt er mürrisch,
  86. Wie er das Kind im Holze angetroffen
  87. Und es gebeten, ihm das Ding zu leihen
  88. Für einen Augenblick, sich dran zu laben;
  89. Denn eine unbezwinglich starke Lust
  90. Hab‘ ihn schon lang gequält, auf solchem Werklein
  91. Ein einzig Mal sich blasend zu vergnügen.
  92. Kopfschüttelnd hab‘ das Knäblein fortgespielt,
  93. Er aber es mit einem Stein erschlagen.
  94. Und weiter ward die Kunde beigebracht,
  95. Wie daß vor Jahren schon in seiner Heimat
  96. Der Unhold von der zarten Kinderwelt
  97. Als Spielzeugräuber sei gefürchtet worden;
  98. Die trauten Plätze, Flure, Hofgebreiten,
  99. Wo sich das kleine Volk zur Lust versammelt:
  100. Der große Range habe finsterlauernd
  101. Beschlichen sie und von dem bunten Werkzeug
  102. Der Jugend sich gewaltsam angeeignet,
  103. Was ihm gefiel, dann in entleg’nen Winkeln
  104. Einsam, mit ungeschickter Hand gespielt.
  105. Der Wahrspruch fiel, die Sühne ward bemessen;
  106. Doch aus der Unthat wurde keiner klug.
Ein Schwurgericht von Gottfried Keller wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/keller/ein-schwurgericht/