- Der neue Herrscher wird in Reims gekrönt.
- Die Glocken läuten. Ein Gefangner stöhnt.
- Und Kutschen rollen nach Paris zurück.
- Die Hohe Schule wünscht in Ehrfurcht Glück.
- Die Knaben singen; ein Erkorner spricht
- Begrüßend sein lateinisches Gedicht,
- Ein Stipendiat, der dürftig und verwaist
- An Königs Freitisch Brot und Bildung speist,
- Mit fahlem, starrem Auge, blasser Stirn.
- Der Große duldets; seine Blicke irrn
- Und ruhen träge aus beim letzten Satz.
- Er greift ein huldreich Wort aus seinem Schatz,
- Sieht an, wirft hin und schiebt mit lässigem Schuh
- Dem schüchtern Wartenden den Brocken zu.
- Die Lehrer dienern vor und ziehn gewandt
- Das Lob, die Gabe, aus des Jünglings Hand,
- Des scher Name weder tönt noch blinkt
- Und morgen flügellos in Alltag sinkt.
- „… ein Schüler aus Arras.“ Der Herrscher führt
- Die Rechte unbewußt zum Nacken, spürt –
- Nichts. Das ist Märchen. Nein. Er hört und nickt
- Gleichgültig-gnädig, lächelt ungeschickt:
- Ein Mensch mit friedlich dumpfendem Gesicht.
- Man nennt ihn König. Seher ward er nicht.
Ludwig XVI., 1775
… eine Ballade von Gertrud KolmarLudwig XVI., 1775 von Gertrud Kolmar wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/kolmar/ludwig-xvi-1775/
Quelle: https://balladen.net/kolmar/ludwig-xvi-1775/