Ludwig XVI., 1775

eine Ballade von Gertrud Kolmar
  1. Der neue Herrscher wird in Reims gekrönt.
  2. Die Glocken läuten. Ein Gefangner stöhnt.
  3. Und Kutschen rollen nach Paris zurück.
  4. Die Hohe Schule wünscht in Ehrfurcht Glück.
  5. Die Knaben singen; ein Erkorner spricht
  6. Begrüßend sein lateinisches Gedicht,
  7. Ein Stipendiat, der dürftig und verwaist
  8. An Königs Freitisch Brot und Bildung speist,
  9. Mit fahlem, starrem Auge, blasser Stirn.
  10. Der Große duldets; seine Blicke irrn
  11. Und ruhen träge aus beim letzten Satz.
  12. Er greift ein huldreich Wort aus seinem Schatz,
  13. Sieht an, wirft hin und schiebt mit lässigem Schuh
  14. Dem schüchtern Wartenden den Brocken zu.
  15. Die Lehrer dienern vor und ziehn gewandt
  16. Das Lob, die Gabe, aus des Jünglings Hand,
  17. Des scher Name weder tönt noch blinkt
  18. Und morgen flügellos in Alltag sinkt.
  19. „… ein Schüler aus Arras.“ Der Herrscher führt
  20. Die Rechte unbewußt zum Nacken, spürt –
  21. Nichts. Das ist Märchen. Nein. Er hört und nickt
  22. Gleichgültig-gnädig, lächelt ungeschickt:
  23. Ein Mensch mit friedlich dumpfendem Gesicht.
  24. Man nennt ihn König. Seher ward er nicht.
Ludwig XVI., 1775 von Gertrud Kolmar wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/kolmar/ludwig-xvi-1775/