- Als die Karren durch die Straßen fuhren
- In die Rue Saint-Honoré,
- Sprangen von den Pflastern tausend Huren,
- Schön geputzt und gräßlich wie Lemuren;
- Ihre Lächeln taten weh,
- Spitze Pfeile aus bemalten Köchern.
- Das geschwellte junge Weib
- Und die Welke, abgenagt und knöchern,
- Bleckten bunt und frech aus Fensterlöchern,
- Männerarme um den Leib:
- Nackt und glitzernd ritt die Goldne Jugend
- Schon ihr geiles, rosig fettes Schwein,
- Stand in Gassen, an den Türen lugend,
- Zu entehren die erschlagne Tugend,
- Auf die sterbende zu spein.
- Schaum und Schmähung brach aus vollem Munde
- Auf den blutigen Verband,
- Auf den Blick, der über seine Wunde
- Hart und elend starrte in die Runde,
- Doch in Nebeln nur empfand,
- Daß Gendarmensäbel auf ihn zeigte,
- Daß der Gäule träges Ziehn
- Und den Tod Megärenschar umreigte,
- Daß ein Haus erbarmend still sich neigte;
- Ach, sie fiel nicht über ihn,
- Diese Mauer, die sein Turm gewesen . . .
- Und ein Schlächterkübel stand,
- Und ein Kind, Gott weiß wo aufgelesen,
- Spritzte froh mit eingetauchtem Besen
- Einen langen Blutstrahl auf die Wand. –
- Seine Lider sanken, weiß von Schimmel.
- Und er war sehr weit
- Aller Erde, aller Hölle, allem Himmel,
- Dieser Würmer fressendem Gewimmel,
- Und sein Grab lag halb verschneit.
- Bretter … Pfähle … eine Scharlachjacke.
- Fäuste griffen aus dem Knäul,
- Fetzten ihm das Linnen von der Backe;
- Sein Gesicht zerstürzte, rote Schlacke,
- Troff in grausigem Geheul:
- Und ein unermeßner Jubel hallte. –
- Drüben ward das Grab verweht. –
- Nur in dämmerdüstrer Gassenspalte
- Raunte zittrig eine arme Alte
- Für dies Sterben ein verrufenes Gebet.
Rue Saint-Honoré
… eine Ballade von Gertrud KolmarRue Saint-Honoré von Gertrud Kolmar wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/kolmar/rue-saint-honore/
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