Der Schneiderjunge von Krippstedt

eine Ballade von August Kopisch

(Nach alter handschriftlicher Notiz.)

  1. In Krippstedt wies ein Schneiderjunge
  2. Dem Bürgermeister einst die Zunge:
  3. Es war im Jahr Eintausend siebenhundert.
  4. Der Bürgermeister sehr sich wundert
  5. Und find’t es wider den Respekt,
  6. Weshalb er in den Turm ihn steckt.
  7. Es war nach der Nachmittagpredigt,
  8. Die Kirche noch nicht ganz erledigt,
  9. Am heil’gen Trinitatis Tag,
  10. Da geschah auf einmal ein großer Schlag!
  11. Es schlug, mit Gedonner, im Wettersturm
  12. Der Blitz in denselben Sankt Niklasturm.
  13. Der Schreck durchfährt die ganze Stadt,
  14. Die kaum sich vom Brand erhoben hat.
  15. Was innen ist im Gotteshaus,
  16. Das dringt mit aller Gewalt heraus:
  17. Was außen ist, das will hinein! —
  18. Da sieht man auf einmal Flammenschein
  19. Von außen an des Turmes Spitze:
  20. Da rief man „Feuer! Wasser! Wo ist die Spritze?“
  21. — Die Spritze, ja, die ist dicht dabei;
  22. Doch Kasten und Röhren sind entzwei! —
  23. Wie saure Milch läuft alles zusammen:
  24. Man schreit und blickt auf die Feuerflammen.
  25. Dazwischen — es war ein böser Tag —
  26. Hallt mancher Donner- und Wetterschlag! —
  27. Nun sammelt sich der Magistrat,
  28. Und jeder weiß etwas und keiner weiß Rat!
  29. Der Bürgermeister, ein weiser Mann,
  30. Sieht sich das Ding bedenklich an
  31. Und spricht: hört mich, wir zwingen’s nicht!
  32. Der Turm brennt nieder wie ein Licht,
  33. Es kommt, wer hatte das gedacht sich,
  34. Wie Anno sechzehnhundert achtzig!
  35. Erst brennt der Turm, die Kirche, die Stadt sodann;
  36. Drum ist mein Rat: rett’ jeder was er kann! —
  37. Da laufen die Bürger; mit aller Kraft
  38. Ein jeder das Seine zusammenrafft.
  39. Das ist ein Gerenne, wie fliegen die Zöpfe,
  40. Wie stoßen zusammen die Puderköpfe!
  41. Auf einmal — was krabbelt dort aus dem Loch
  42. Am Turm? — der Junge! — Nein! — Und doch!
  43. Er ist’s, er klettert zu Turmes Spitze —
  44. Der Schlingel! Er nimmt vom Kopf die Mühe,
  45. Er schlägt auf das Feuer und — dass dich der Daus!
  46. Er löscht es mit seiner Mühe aus!
  47. Er tupft am ganzen Turm umher,
  48. Man sieht nicht eine Flamme mehr!
  49. Und während alle jubelnd schrein,
  50. Schlüpft er von neuem ins Loch hinein.
  51. Er scheut des Magistrates Wesen
  52. Und sitzt, als war gar nichts gewesen.
  53. Das mehrt den Jubel, die Bürger alle
  54. Rufen ihm Vivat! mit großem Schalle;
  55. Der Bürgermeister aber spricht,
  56. Indem sein großer Zorn sich bricht:
  57. Holt ihn heraus, ich erzeig ihm Ehr,
  58. Und tu für ihn zeitlebens mehr! —
  59. „Da kommt er ganz rußig, der Knirps, der Zwerg!
  60. Hoch lebe der kleine Liewenberg!“ —
  61. Der Bürgermeister sprach: komm Junge,
  62. Streck noch einmal heraus die Zunge!
  63. Ich leg dir lauter Dukaten drauf!
  64. So, sperr den Mund recht angelweit auf!
  65. Nur immer mehr herausgereckt!
  66. Wir haben alle vor dir Respekt!
  67. Und morgen wird, dass nichts maniquiert,
  68. Die große Spritze hier probiert
  69. Und was entzwei ist, repariert! —
Der Schneiderjunge von Krippstedt von August Kopisch wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/kopisch/der-schneiderjunge-von-krippstedt/