Des winzigen Volkes Überfahrt

eine Ballade von August Kopisch
  1. Steh auf, steh auf! Es pocht ans Haus –
  2. „Tipp, tipp!“ – Wer mag das sein?
  3. Der alte Fährmann geht hinaus,
  4. „Tipp, tipp!“ – Wer mag das sein?
  5. Nichts sieht er, – halb nur scheint der Mond,
  6. die Sache deucht ihm ungewohnt! –
  7. Da flüstert es fein:
  8. „O Fährmann mein,
  9. wir sind ein winzig Völkelein
  10. und haben Weib und Kinderlein.
  11. Fahr uns, die Müh ist klein,
  12. und jedes zahlt sein Hellerlein.
  13. Es lärmt zu sehr im Lande,
  14. wir wollen zum andren Strande.
  15. Unheimlich wird’s an diesem Ort,
  16. es gellt hier zu viel Hammerschlag
  17. und schießt und trommelt fort und fort,
  18. die Glocken läuten Tag für Tag!“ –
  19. – Der Fährmann steigt in seinen Kahn:
  20. „Ich will euch fahren: kommt heran!
  21. Werft ohne Betrug
  22. das Geld in den Krug!“ –
  23. O welchen Lärm vernahm er da,
  24. obwohl er nichts am Ufer sah;
  25. er wußte nicht, wie ihm geschah,
  26. es klang wie fern und war doch nah:
  27. zehntausend kleine Stimmchen,
  28. viel feiner als die Immchen.
  29. Der Schiffer ruft den Knechte sein;
  30. er kommt. Die kleinen Wesen schrein:
  31. „Zertritt uns nicht, wir sind so klein!“
  32. Da mußt er wohl behutsam sein!
  33. Tick, tick! fiel’s in den Krug hinab,
  34. wie jeder seinen Heller gab.
  35. Pirr! trippelt’s heran
  36. und stapft zum Kahn
  37. und ächzt wie mit Kisten und Kasten schwer,
  38. rück, drückt und schiebt sich hin und her,
  39. es drängt und zwängt sich immermehr:
  40. „Fahr ab, der Kahn will sinken,
  41. fort! eh wir all ertrinken!“
  42. Der Schiffer stößt vom Ufer los,
  43. und als er jetzo drüben war,
  44. geht an das Schiff mit leichtem Stoß.
  45. Au! schrie die ganze kleine Schar,
  46. in Ohnmacht fiel da manche Frau,
  47. das hörte man am Ton genau.
  48. Nun dappelt’s hinaus
  49. mit Katz und Maus,
  50. mit Kind und Kegel und Stuhl und Tisch,
  51. mit Kisten und Kasten und Federwisch.
  52. Es war ein Lärmen und ein Gemisch
  53. von Ruf und Zank und Stillgezisch.
  54. Nichts sieht man, doch am Schalle
  55. hört man, hinaus sind alle. –
  56. Nach holt er wieder neue Schar:
  57. die lärmt hinaus: er fährt zurück.
  58. Als dreißigmal gefahren war,
  59. laßt nach im Krug das tück tück tück. –
  60. Er fährt den letzten Teil zum Strand,
  61. Der Mond geht unter am Himmelrand.
  62. Doch dunkel ist es nicht:
  63. Was glänzt so licht?
  64. Am Strand gehn tausend Lichter klein,
  65. wie von Johanniswürmelein. –
  66. Da rafft der Knecht vom Uferrain
  67. Erdboden in den Hut hinein,
  68. setzt auf und kann nun schauen
  69. die Männlein und die Frauen.
  70. O welche Wunder er nun sah:
  71. der ganze Strand war all bedeckt,
  72. sie liefen mit Laternchen da;
  73. von Gras und Blumen oft versteckt,
  74. und trugen Kindlein wunderhold
  75. und Edelstein und rotes Gold. –
  76. Hei, denket der Knecht:
  77. das kommt mir recht!
  78. und langt begierig aus dem Kahn
  79. am Uferrande weit hinan: –
  80. Da merket ihn ein kleiner Mann,
  81. der fängt ein Zeterschreien an!
  82. Puh, puh! sind aus die Lichte,
  83. verschwunden alle Wichte!
  84. Drauf flog es her wie Erbsen klein,
  85. es mochten kleine Steinchen sein,
  86. die warfen sie mit großer Pein
  87. und ächzten mühsam hinterdrein! –
  88. „Es sprühet immer mehr wie toll!
  89. Fort, fort von hier, der Kahn wird voll!“ –
  90. Sie wenden geschwind
  91. herum wie der Wind
  92. und stoßen eilig ab vom Land
  93. und fahren in Angst sich fest im Sand,
  94. bald rechter Hand, bald linker Hand;
  95. und immer ruft es nach dem Strand:
  96. „Das Fliehn war euer Glücke;
  97. sonst kamt ihr nicht zurücke!“
Des winzigen Volkes Überfahrt von August Kopisch wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/kopisch/des-winzigen-volkes-ueberfahrt/