- »Kein Mittagessen fünf Tage schon.
- Die Heimat so weit, kein Geld und kein Lohn,
- Statt Arbeit zu finden, nur Hunger und Not,
- Nur wandern und betteln und kaum ein Stück Brot.«
- Was biegt der Handwerksbursch in den Wald?
- Was läuft ihm übers Gesicht so kalt?
- Was sieht er trostlos in den Raum?
- Was irrt sein Auge von Baum zu Baum?
- Die Sonne sinkt und Stille ringsum,
- Die Drossel nur lärmt noch, sonst Alles stumm.
- Was schaukelt der Erlbaum am Waldesrand?
- In seinen Ästen ein Mensch verschwand.
- Von seinem ärmlichen Bündel den Strick,
- Er legt um den Hals ihn, um Wirbel, Genick,
- Dann läßt er sich fallen – nur kurz ist die Qual,
- Er sah die Sonne zum letzten Mal.
- Der Tau fällt auf ihn, der Tag erwacht,
- Der Pirol flötet, der Tauber lacht.
- Es lebt und webt, als wär‘ nichts geschehn,
- Gleichgültig wispern die Winde und wehn.
- Ein Jäger kommt den Hügel herab,
- Und sieht den Erhängten und schneidet ihn ab.
- Und macht der Behörde die Anzeige schnell,
- Gendarmen und Träger sind bald zur Stell‘.
- In hellen Glacés ein Herr vom Gericht,
- Der prüft, ob kein Raubmord, wie das seine Pflicht.
- Sie tragen den Leichnam ins Siechenhaus,
- Und dann, wo kein Kreuz steht, ins Feld hinaus.
- Da Niemand zuvor den Toten gesehn,
- Erhält er die Nummer dreihundert und zehn.
- Drei Hundert und neun schon liegen im Sand,
- Wer hat sie geliebt, wer hat sie gekannt?
Hochsommer im Walde
… eine Ballade von Detlev von LiliencronHochsommer im Walde von Detlev von Liliencron wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/liliencron/hochsommer-im-walde/
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