Der gleitende Purpur

eine Ballade von Conrad Ferdinand Meyer
  1. „Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!“
  2. Schallt im Münsterchor der Psalm der Knaben.
  3. Kaiser Otto lauscht der Mette,
  4. Diener hinter sich mit Spend’ und Gaben.
  5. Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!
  6. Heute, da die Himmel niederschweben,
  7. Wird dem Elend und der Blöße
  8. Mäntel er und warme Röcke geben.
  9. Hundert Bettler stehn erwartend –
  10. Einer hält des Kaisers Knie umfangen
  11. Mit den wundgeriebnen Armen,
  12. dran zerrissner Fesseln Enden hangen.
  13. – „Schalk! Was zerrst du mir den Purpur?
  14. Harr und beite! Kennst du mich als Kargen?“
  15. Doch der Bettler hält den Mantel
  16. Fest und jammert: „Kennst du mich, den Argen?
  17. Du Gesalbter und Erlauchter!
  18. Kennst du mich? … Du hast mit mir gelegen,
  19. Mit dem Siechen, mit dem Wunden,
  20. Unter eines Mutterherzens Schlägen.
  21. Aus demselben Wollentuche
  22. Schnitt man uns die Kappen und die Kleider!
  23. Aus demselben Psalmenbuche
  24. Sang das frische Jugendantlitz Beider!
  25. Heinz, wo bist du? Heinz, wo bleibst du?
  26. Hast zum Spiele du mich oft gerufen
  27. Durch die Säle, durch die Gänge,
  28. Auf und ab der Wendeltreppe Stufen …
  29. Dann als einen falschen Bruder
  30. Und Verräther hast Du mich erfunden!
  31. Du ergrimmtest und Du warfest
  32. In die Kerkertiefe mich gebunden …
  33. In der Tiefe meines Kerkers
  34. Hab’ ich ohne Mantel heut gefroren …
  35. Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!
  36. Heute wird der Welt das Heil geboren!“
  37. „Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!“
  38. Hundert Bettler strecken jetzt die Hände:
  39. „Gieb uns Mäntel! Gieb uns Röcke!
  40. Sei barmherzig! Gieb uns Deine Spende!“
  41. Eine Spange löst der Kaiser
  42. Sacht. Sein Purpur gleitet, gleitet, gleitet
  43. Ueber seinen sünd’gen Bruder
  44. Und der erste Bettler steht bekleidet …
  45. Eia Weihnacht! Eia Weihnacht!
  46. Jubelt Erd’ und Himmelreich mit Schallen.
  47. Glorie! Glorie! Friede! Freude!
  48. Und am Menschenkind ein Wohlgefallen!
Der gleitende Purpur von Conrad Ferdinand Meyer wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/meyer/der-gleitende-purpur/