- Jüngst am Libanon in einem Kloster,
- Drin ich eine kurze Reiserast hielt,
- Langsam durch die kühlen Hallen wandelnd,
- Blieb ich stehn vor einem alten Bilde,
- Wohlbewahrt in eigener Capelle.
- Es berührte mich mit leisem Zauber
- Trotz der byzantinischen Gestalten,
- Denn darüber lag ein Glanz der Liebe:
- Durch das Thor des Paradieses schritten
- Eine Sarazenin und ein Pilger,
- Hand in Hand versenkt und Blick in Blick auch.
- „Was bedeutet dieses süße Märchen?“
- Frug ich Anaklet, den Klosterbruder,
- Der mich schleichend überall begleitet.
- Mit gesenkten Augen gab er Antwort:
- „Guter Herr, kein süßes Märchen ist es,
- Sondern eine tröstliche Legende,
- Auf ein altes Pergament verzeichnet
- Zur Erbauung aller gläub’gen Christen.
- Dieser Pilger ist ein heilger Märtrer,
- Eine Märtrin ist die Sarazenin,
- Er verschied, gesteinigt und gepeinigt,
- Sie verblich, umarmend eine Schwelle!“
- Märchenlustig bin ich wie Scheherban,
- Wie die plaudernde Scheherezade!
- Und ich bat den Mönch: „Erzähle, Vater,
- Deinem Sohn die tröstliche Legende.“
- Bruder Anaklet willfahrte sprechend:
- „Einst, vor ungezählten vielen Jahren –
- – Also steht’s im Pergament verzeichnet,
- Das ich gründlich lernte schon als Knabe –
- Zogen Pilger nach dem Grab vorüber
- Ohne Rast und ohne Trunk und Speise
- Scheuen Fußes an der Stadt Damaskus,
- Denn verhaßt ist Christus in Damaskus!
- Vor der Stadt Damaskus rauscht ein Brunnen,
- Wo ein Löwenkopf aus seines Maules
- Tiefherabgezognen Winkeln sprudelt
- Ein begehrtes köstlich kühles Wasser.
- Dort am Brunnen stand die Sarazenin.
- Schleierlos, die jungen warmen Augen
- Fünfzehnjährig oder sechszehnjährig,
- Stand am Brunnen eine Sarazenin,
- Die den schlanken Krug gelassen füllte.
- Alle Pilger zogen ihr vorüber
- Mit gesenktem Haupte niederblickend,
- Denn die Moslimweiber treiben Künste.
- (Aber überwunden hat sie Christus!)
- Nur ein zarter Jüngling, fast ein Knabe
- Noch, entwich der Pilgerreihe durstig,
- Nahte sich der jungen Sarazenin
- Flehend, forderte von ihr zu trinken.
- Langsam senkte sie den Krug. Er schlürfte.
- Langsam hob den Krug zu Haupt sie wieder,
- Heimwärts wandelnd. Vor des Thores Wölbung
- Wandte sie das Haupt mitsammt dem Kruge,
- Schritte fühlend hinter ihren Sohlen:
- „Pilger, hüte dich vor diesem Thore!
- Denn es würde dir zum Thor des Todes!
- Meine dunkeln Augen sind verderblich
- Und verhaßt ist Christus in Damaskus!“
- Und sie wandelt durch des Thores Wölbung,
- Und sie wandelt durch die dunkeln Gassen,
- Schritte fühlend hinter ihren Sohlen.
- Ihre Türe öffnet sie und schließt sie
- Und empor zum innern Söller steigend
- Sieht sie mit den Sinnen ihres Geistes
- Einen Pilger liegen auf der Schwelle,
- Auf der Schwelle vor des Hauses Pforte.
- In der ersten Morgenhelle stand sie
- Vor dem Pilger, heftig ihn zu schelten:
- „Pilger, hebe dich von dieser Schwelle,
- Die zur Schwelle würde dir des Todes!
- Will nicht schuldig sein an deinem Tode!
- Meine dunkeln Augen sind verderblich!
- Alle schlügen heute dich mit Stäben,
- Alle würfen heute dich mit Steinen,
- Und du lägest todt in deinem Blute!
- Denn verhaßt ist Christus in Damaskus!
- Weiche, Pilger! Heb’ dich, läst’ger Bettler!
- Fremdling! Abergläub’scher! Götzendiener!
- Diesen Lippen einen Kuß! Entweiche!“
- Doch er weigerte sich mit dem Haupte,
- Zornig wich von ihm die Sarazenin.
- In der letzten Abendhelle stand sie
- Vor dem Pilger, dem das Blut aus vielen
- Wunden strömte, heftig ihn zu schelten:
- „Weiche, Pilger! Heb’ dich, läst’ger Bettler!
- Fremdling! Abergläub’scher! Götzendiener!
- Meine dunkeln Augen sind verderblich
- Und verhaßt ist Christus in Damaskus!
- Will nicht schuldig sein an deinem Tode!
- Waschen will ich deine rothen Striemen,
- Küssen will ich deine blut’gen Wunden,
- Läugnest du den bleichen Mann am Holze!“
- Doch er weigerte sich mit dem Haupte,
- Weinend wich von ihm die Sarazenin
- Und empor zum innern Söller steigend
- Hört sie mit den Sinnen ihres Geistes
- Leise stöhnen einen Todeswunden
- Auf der Schwelle vor des Hauses Pforte.
- Ferne blieb der Schlummer ihren Lidern,
- Endlich kam der Schlummer und ein Traum kam.
- Rings empor an eines Gipfels Abhang
- Klommen mit erbaulichen Gesängen
- Pilger auf zum Thor des Paradieses.
- Einer klomm voran, ein heil’ger Märtrer,
- Den die andern grüßten ehrerbietig.
- In des Thores Wölbung stand der Heiland:
- „Tritt herein! Du hast für mich geblutet!“
- Doch der Pilger weigerte sich standhaft:
- „Heiland, laß mich liegen auf der Schwelle,
- Bis sie kommt die stündlich ich erwarte!
- Hand in Hand versenkt und Blick in Blick auch,
- Tritt sie, mir gesellt, in deine Freude,
- Keine Sarazenin, eine Christin.
- Solches träumend, stürzten ihr die Thränen
- So gewaltig, daß sie drob erwachte.
- Jählings springt sie auf von ihrem Lager,
- Fliegt hinab des Hauses hundert Stufen:
- Leer und blutbegossen lag die Schwelle
- In des ungebornen Tages Frühlicht.
- Auf die harte Schwelle kniet sie nieder,
- Badet sie mit unerschöpften Thränen,
- Drängt den warmen Busen ihr entgegen,
- Preßt sie fest, als klopft’ ein Herz im Steine,
- Keines klopft, doch ihres zum Zerspringen.
- Als die Füße derer wiederkehrten,
- Die den Todten vor das Thor getragen,
- Eilten sie der Schwelle scheu vorüber,
- Auf der Schwelle sahn sie eine Todte,
- Auf der Schwelle lag die Sarazenin.
- Keine Sarazenin, eine Christin!“
- Endet’ Bruder Anaklet erbaulich.
Der Pilger und die Sarazenin
… eine Ballade von Conrad Ferdinand MeyerDer Pilger und die Sarazenin von Conrad Ferdinand Meyer wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/meyer/der-pilger-und-die-sarazenin/
Quelle: https://balladen.net/meyer/der-pilger-und-die-sarazenin/