- Liebe Kinder, wisst ihr wo
- Fingerhut zu Hause?
- Tief im Tal von Acherloo
- Hat er Herd und Klause;
- Aber schon in jungen Tagen
- Muss er einen Höcker tragen;
- Geht er, wunderlicher nie
- Wallte man auf Erden!
- Sitzt er, staunen Kinn und Knie,
- Dass sie Nachbarn werden.
- Körbe flicht aus Binsen er
- Früh und spät sich regend,
- Trägt sie zum Verkauf umher
- In der ganzen Gegend,
- Und er gäbe sich zufrieden,
- Wär er nicht im Volk gemieden;
- Denn man zischelt mancherlei:
- Dass ein Hexenmeister,
- Dass er kräuterkundig sei
- Und im Bund der Geister.
- Solches ist die Wahrheit nicht,
- Ist ein leeres Meinen,
- Doch das Volk im Dämmerlicht
- Schaudert vor dem Kleinen.
- So die Jungen wie die Alten
- Weichen aus dem Ungestalten –
- Doch vorüber wohlgemut
- Auf des Schusters Räppchen
- Trabt er. Blauer Fingerhut
- Nickt von seinem Käppchen.
- Einmal geht er heim bei Nacht
- Nach des Tages Lasten,
- Hat den halben Weg gemacht,
- Darf ein bisschen rasten,
- Setzt sich und den Korb daneben,
- Schimmernd hebt der Mond sich eben:
- Fingerhut ist gar nicht bang,
- Ihm ist gar nicht schaurig,
- Nur dass noch der Weg so lang,
- Macht den Kleinen traurig.
- Etwas hört er klingen fein –
- Nicht mit rechten Dingen,
- Mitten aus dem grünen Rain
- Ein melodisch Singen:
- „Silberfähre, gleitest leise“ –
- Schon verstummt die kurze Weise.
- Fingerhütchen spähet scharf
- Und kann nichts entdecken,
- Aber was er hören darf,
- Ist nicht zum Erschrecken.
- Wieder hebt das Liedchen an
- Unter Busch und Hecken,
- Doch es bleibt der Reimgespan
- Stets im Hügel stecken.
- „Silberfähre, gleitest leise“ –
- Wiederum verstummt die Weise.
- Lieblich ist, doch einerlei
- Der Gesang der Elfen,
- Fingerhütchen fällt es bei,
- Ihnen einzuhelfen.
- Fingerhütchen lauert still
- Auf der Töne Leiter,
- Wie das Liedchen enden will,
- Führt er leicht es weiter:
- „Silberfähre, gleitest leise
- Ohne Ruder, ohne Gleise.“
- Aus dem Hügel rufts empor:
- „Das ist dir gelungen!“
- Unterm Boden kommt hervor
- Kleines Volk gesprungen.
- „Fingerhütchen, Fingerhut“,
- Lärmt die tolle Runde
- „Fass dir einen frischen Mut!
- Günstig ist die Stunde
- Silberfähre gleitest leise
- Ohne Ruder, ohne Gleise!
- Dieses hast du brav gemacht,
- Lernet es, ihr Sänger!
- Wie du es zustand gebracht,
- Hübscher ists und länger!
- Zeig dich einmal, schöner Mann!
- Lass dich einmal sehen:
- Vorn zuerst und hinten dann!
- Lass dich einmal drehen!
- Weh! Was müssen wir erblicken!
- Fingerhütchen, welch ein Rücken!
- Auf der Schulter, liebe Zeit,
- Trägst du eine grause Bürde!
- Ohne hübsche Leiblichkeit
- Was ist Geisteswürde?
- Eine ganze Stirne voll
- Glücklicher Gedanken
- Unter einem Höcker soll
- Länger nicht sie schwanken!
- Strecket euch, verkrümmte Glieder!
- Garstger Buckel, purzle nieder!
- Fingerhut, nun bist du grad
- Deines Fehls genesen!
- Heil zum schlanken Rückengrat!
- Heil zum neuen Wesen!“
- Plötzlich steckt der Elfenchor
- Wieder tief im Raine,
- Aus dem Hügelgrund empor
- Tönts im Mondenscheine:
- „Silberfähre, gleitest leise
- Ohne Ruder, ohne Gleise.“
- Fingerhütchen wird es satt
- Wäre gern daheime,
- Er entschlummert lass und matt
- An dem eignen Reime.
- Schlummert eine ganze Nacht
- Auf derselben Stelle;
- Wie er endlich auferwacht,
- scheint die Sonne helle:
- Kühe weiden, Schafe grasen
- Auf des Elfenhügels Rasen.
- Fingerhut ist bald bekannt,
- Lässt die Blicke schweifen,
- Sachte dreht er dann die Hand,
- Hinter sich zu greifen.
- Ist ihm Heil im Traum geschehn?
- Ist das Heil die Wahrheit?
- Wird das Elfenwort bestehn
- Vor des Tages Klarheit?
- Und er tastet, tastet, tastet:
- Unbebürdet! Unbelastet!
- „Jetzt bin ich ein grader Mann!“
- Jauchzt er ohne Ende,
- Wie ein Hirschlein jagt er dann
- Über Feld behende.
- Fingerhut steht plötzlich still,
- Tastet leicht und leise,
- Ob er wieder wachsen will?
- Nein, in keiner Weise!
- Selig preist er Nacht und Stunde,
- Da er sang im Geisterbunde –
- Fingerhütchen wandelt schlank,
- Gleich als hätt er Flügel,
- Seit er schlummernd niedersank
- Nachts am Elfenhügel.
Fingerhütchen
… eine Ballade von Conrad Ferdinand MeyerFingerhütchen von Conrad Ferdinand Meyer wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/meyer/fingerhuetchen/
Quelle: https://balladen.net/meyer/fingerhuetchen/