- Jüngst im Traume sah ich auf den Fluten
- Einen Nachen ohne Ruder ziehn,
- Strom und Himmel stand in matten Gluten
- Wie bei Tages Nahen oder Fliehn.
- Saßen Knaben drin mit Lotoskränzen,
- Mädchen beugten über Bord sich schlank,
- Kreisend durch die Reihe sah ich glänzen
- Eine Schale, draus ein Jedes trank.
- Jetzt erscholl ein Lied voll süßer Wehmuth,
- Das die Schaar der Kranzgenossen sang –
- Ich erkannte deines Nackens Demuth,
- Deine Stimme, die den Chor durchdrang.
- In die Welle taucht’ ich. Bis zum Marke
- Schaudert’ ich, wie seltsam kühl sie war.
- Ich erreicht’ die leise zieh’nde Barke,
- Drängte mich in die geweihte Schaar.
- Und die Reihe war an dir, zu trinken
- Und die volle Schale hobest du,
- Sprachst zu mir mit trautem Augenwinken:
- „Herz, ich trinke dir Vergessen zu.“
- Dir entriß in trotz’gem Liebesdrange
- Ich die Schale, warf sie in die Flut,
- Sie versank und siehe, deine Wange
- Färbte sich mit einem Schein von Blut.
- Flehend küßt’ ich dich in wildem Harme,
- Die den bleichen Mund mir willig bot,
- Da zerrannst du lächelnd mir im Arme
- Und ich wußt’ es wieder – du bist todt.
Lethe
… eine Ballade von Conrad Ferdinand MeyerLethe von Conrad Ferdinand Meyer wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/meyer/lethe/
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