- Die Abendstille kam herbei,
- Der Meister folgt dem allgemeinen Triebe;
- Verlassend seine Staffelei,
- Blickt er das Bild noch einmal an mit Liebe.
- Da pocht es voll Tumult am Haus,
- Und ehe Luca fähig ist zu fragen,
- Ruft einer seiner Schüler aus:
- Dein einziger Sohn, o Meister, ist erschlagen!
- In holder Blüte sank dahin
- Der schönste Jüngling, den die Welt erblickte:
- Es war die Schönheit sein Ruin,
- Die oft in Liebeshändel ihn verstrickte.
- Vor eines Nebenbuhlers Kraft
- Sank er zu Boden, fast in unsrer Mitte;
- Ihn trägt bereits die Brüderschaft
- Zur Totenkirche, wie es heischt die Sitte.
- Und Luca spricht: O mein Geschick!
- So lebt ich denn, so strebt ich denn vergebens?
- Zunichte macht ein Augenblick
- Die ganze Folge meines reichen Lebens!
- Was half es, daß in Farb und Licht
- Als Meister ich Cortonas Volk entzückte,
- Mit meinem jüngsten Weltgericht
- Orvietos hohe Tempelhallen schmückte?
- Nicht Ruhm und nicht der Menschen Gunst
- Beschützte mich und nicht des Geistes Feuer:
- Nun ruf ich erst, geliebte Kunst,
- Nun ruf ich dich, du warst mir nie so teuer!
- Er spricht’s, und seinen Schmerz verrät
- Kein andres Wort. Rasch eilt er zur Kapelle,
- Indem er noch das Malgerät
- Den Schülern reicht, und diese folgen schnelle.
- Zur Kirche tritt der Greis hinein,
- Wo seine Bilder ihm entgegentreten,
- Und bei der ewigen Lampe Schein
- Sieht er den Sohn, um den die Mönche beten.
- Nicht klagt er oder stöhnt und schreit,
- Kein Seufzer wird zum leeren Spiel des Windes,
- Er setzt sich hin und konterfeit
- Den schönen Leib des vielgeliebten Kindes.
- Und als er ihn so Zug für Zug
- Gebildet, spricht er gegen seine Knaben:
- Der Morgen graut, es ist genug,
- Die Priester mögen meinen Sohn begraben.
Luca Signorelli
… eine Ballade von August von PlatenLuca Signorelli von August von Platen wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/platen/luca-signorelli/
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