- Chidher, der ewig junge, sprach:
- Ich fuhr an einer Stadt vorbei,
- Ein Mann im Garten Früchte brach;
- Ich fragte, seit wann die Stadt hier sei?
- Er sprach, und pflückte die Früchte fort:
- Die Stadt steht ewig an diesem Ort,
- Und wird so stehen ewig fort.
- Und aber nach fünfhundert Jahren
- Kam ich desselbigen Wegs gefahren.
- Da fand ich keine Spur der Stadt;
- Ein einsamer Schäfer blies die Schalmei,
- Die Herde weidete Laub und Blatt;
- Ich fragte: wie lang ist die Stadt vorbei?
- Er sprach, und blies auf dem Rohre fort:
- Das eine wächst, wenn das andre dorrt;
- Das ist mein ewiger Weideort.
- Und aber nach fünfhundert Jahren
- Kam ich desselbigen Wegs gefahren.
- Da fand ich ein Meer, das Wellen schlug,
- Ein Schiffer warf die Netze frei,
- Und als er ruhte vom schweren Zug,
- Fragt ich, seit wann das Meer hier sei?
- Er sprach, und lachte meinem Wort:
- Solang als schäumen die Wellen dort,
- Fischt man und fischt man in diesem Port.
- Und aber nach fünfhundert Jahren
- Kam ich desselbigen Wegs gefahren.
- Da fand ich einen waldigen Raum,
- Und einen Mann in der Siedelei,
- Er fällte mit der Axt den Baum;
- Ich fragte, wie alt der Wald hier sei?
- Er sprach: der Wald ist ein ewiger Hort;
- Schon ewig wohn ich an diesem Ort,
- Und ewig wachsen die Bäum hier fort.
- Und aber nach fünfhundert Jahren
- Kam ich desselbigen Wegs gefahren.
- Da fand ich eine Stadt, und laut
- Erschallte der Markt vom Volksgeschrei.
- Ich fragte: seit wann ist die Stadt erbaut?
- Wohin ist Wald und Meer und Schalmei?
- Sie schrien, und hörten nicht mein Wort:
- So ging es ewig an diesem Ort,
- Und wird so gehen ewig fort.
- Und aber nach fünfhundert Jahren
- Will ich desselbigen Weges fahren.
Chidher
… eine Ballade von Friedrich RückertChidher von Friedrich Rückert wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/rueckert/chidher/
Quelle: https://balladen.net/rueckert/chidher/