- Hoffe! du erlebst es noch,
- Daß der Frühling wiederkehrt.
- Hoffen alle Bäume doch,
- Die des Herbstes Wind verheert,
- Hoffen mit der stillen Kraft
- Ihrer Knospen winterlang,
- Bis sich wieder regt der Saft
- Und ein neues Grün entsprang. –
- »Ach, ich bin kein starker Baum,
- Der ein Sommertausend lebt,
- Nach verträumtem Wintertraum
- Neue Lenzgedichte webt.
- Ach, ich bin die Blume nur,
- Die des Maies Kuß geweckt
- Und von der nicht bleibt die Spur,
- Wie das weiße Grab sie deckt.« –
- Wenn du denn die Blume bist,
- O bescheidenes Gemüt,
- Tröste dich, beschieden ist
- Samen allem, was da blüht.
- Laß den Sturm des Todes doch
- Deinen Lebensstaub verstreun,
- Aus dem Staube wirst du noch
- Hundertmal dich selbst erneun. –
- »Ja, es werden nach mir blühn
- Andre, die mir ähnlich sind;
- Ewig ist das ganze Grün,
- Nur das einzle welkt geschwind.
- Aber, sind sie, was ich war,
- Bin ich selber es nicht mehr;
- Jetzt nur bin ich ganz und gar,
- Nicht zuvor und nicht nachher.
- Wenn einst sie der Sonne Blick
- Wärmt, der jetzt noch mich durchflammt,
- Lindert das nicht mein Geschick,
- Das mich nun zur Nacht verdammt.
- Sonne, ja du äugelst schon
- Ihnen in die Fernen zu;
- Warum noch mit frost’gem Hohn
- Mir aus Wolken lächelst du?
- Weh mir, daß ich dir vertraut,
- Als mich wach geküßt dein Strahl;
- Daß ins Aug‘ ich dir geschaut,
- Bis es mir das Leben stahl!
- Dieses Lebens armen Rest
- Deinem Mitleid zu entziehn,
- Schließen will ich krankhaft fest
- Mich in mich und dir entfliehn.
- Doch du schmelzest meines Grimms
- Starres Eis in Thränen auf;
- Nimm mein fliehend Leben, nimm’s,
- Ewige, zu dir hinauf!
- Ja, du sonnest noch den Gram
- Aus der Seele mir zuletzt;
- Alles, was von dir mir kam,
- Sterbend dank‘ ich dir es jetzt:
- Aller Lüfte Morgenzug,
- Dem ich sommerlang gebebt,
- Aller Schmetterlinge Flug,
- Die um mich im Tanz geschwebt;
- Augen, die mein Glanz erfrischt,
- Herzen, die mein Duft erfreut;
- Wie aus Duft und Glanz gemischt
- Du mich schufst, dir dank‘ ich’s heut.
- Eine Zierde deiner Welt,
- Wenn auch eine kleine nur,
- Ließest du mich blühn im Feld,
- Wie die Stern‘ auf höhrer Flur.
- Einen Odem hauch‘ ich noch,
- Und er soll kein Seufzer sein;
- Einen Blick zum Himmel hoch
- Und zur schönen Welt hinein.
- Ew’ges Flammenherz der Welt,
- Laß verglimmen mich an dir!
- Himmel, spann‘ dein blaues Zelt,
- Mein vergrüntes sinket hier.
- Heil, o Frühling, deinem Schein!
- Morgenluft, Heil deinem Weh’n!
- Ohne Kummer schlaf‘ ich ein,
- Ohne Hoffnung aufzustehn.«
Die sterbende Blume
… eine Ballade von Friedrich RückertDie sterbende Blume von Friedrich Rückert wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/rueckert/die-sterbende-blume/
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