- Die Jungfrau, die verzaubert dort
- Sitzt in der Höhle Grunde,
- Hat auf Erlösung fort und fort
- Gewartet bis zur Stunde;
- Wer sich an die Erlösung wagt,
- Muß einen Kuß nur unverzagt
- Aufdrücken ihrem Munde.
- Allein beim Küssen ziert sie sich,
- Und gar nicht hold jungfräulich,
- Verwandelnd umgebiert sie sich
- In viel Gestalten greulich,
- Daß nur ein unerschrockner Mann
- Es ansehn und sie küssen kann,
- Wie sie sich stellt abscheulich.
- Da war ein Schneider jung und keck,
- Der kühnste Mann auf Erden,
- Dem saß das Herz am rechten Fleck:
- Magst du dich nur gebärden!
- Und was du tust und was du sagst,
- Und wie du dich verwandeln magst,
- Du sollst erlöset werden.
- Die Jungfrau ward von Angesicht
- Zum schrecklichsten der Drachen;
- Der tapfre Schneider zittert nicht,
- Und küßt sie auf den Rachen;
- Die Jungfrau wird ein grimmer Leu,
- Schon will der Schneider auch nicht scheu
- Zum Kuß sich fertig machen.
- Die Jungfrau wird zum Krokodil,
- Er will zum Kusse schreiten;
- Und wie sie sich verwandeln will,
- Er wird sie doch erstreiten.
- Zuletzt wird sie ein Ziegenbock,
- Da rennt er über Stock und Block:
- Dich mag der Teufel reiten!
Die verzauberte Jungfrau
… eine Ballade von Friedrich RückertDie verzauberte Jungfrau von Friedrich Rückert wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/rueckert/die-verzauberte-jungfrau/
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