Jusuf und Suleicha

eine Ballade von Friedrich Rückert
  1. Lange her ist’s, dass Suleicha
  2. Jung und schön und reich und üppig,
  3. Josef ihren keuschen Sklaven
  4. Wollte ziehn in ihre Arme,
  5. Denen er den Kerker verzog.
  6. Er indes ist aus dem Kerker
  7. Zu Ägyptens Thron gestiegen,
  8. Jung und schön ist er geblieben,
  9. Reich geworben, nur nicht üppig;
  10. Sie aus ihren Hochpalästen
  11. In der Armut niedre Hütte,
  12. Alt, bemüthig eingezogen.
  13. Alles Glück hat sie verlassen,
  14. Nur nicht Josef’s Angedenken,
  15. Wenn das ist ein Glück zu nennen,
  16. Was sie an verlornen Glückes
  17. Träume noch in Träumen mahnet.
  18. Doch die Blume der Entsagung
  19. Ist aus ihrer Liebe Schmerzen,
  20. Wie aus Rosen eine Lilie,
  21. Hell und glänzend aufgegangen.
  22. In der Liebe Koran heißt es:
  23. „Die Entsagung bring Erhöhung,
  24. Die Verstoßung Luftvereinigung.“
  25. Gabriel von Gottes Throne
  26. Bringt die Urkund’ ausgefertigt,
  27. Von den werthen Schreiberengeln,
  28. Blumenschrift auf Gold geschrieben,
  29. Von den Zeugen unterzeichnet,
  30. Von dem Richter selbst besiegelt,
  31. Dass der Ehebund im Himmel
  32. Ist geschlossen, und auf Erden
  33. Josef die Suleicha freiet.
  34. Feierlich im Hochzeitzuge
  35. Wird die Braut zu ihres Gatten
  36. Haus geführt, die schnellverjüngte,
  37. Jünger als sie jung gewesen,
  38. Weil die Liebe sie verjüngt,
  39. Schöner als sie schön gewesen,
  40. Weil die Liebe sie schön gewesen,
  41. Weil die Demut sie so reich war,
  42. Weil die Frömmigkeit mit reicherm
  43. Als Juwelenschmuck sie schmückte.
  44. Ihrer harrt der ungeduld’ge
  45. Bräutigam im Brautgemache,
  46. Doch sie beugt die schönen Glieder
  47. Erst, in Andacht sich versenkend,
  48. Zum Gebet, und macht es lange.
  49. Josef spricht: „Bist du Suleicha,
  50. Die Suleicha, deren inbrunst
  51. Mir zerriss den Saum des Hemdes?“
  52. „Die Suleicha,“ spricht Suleicha,
  53. „Bin ich nicht, ich bin die andre;
  54. Jene war die reichersehnte.“
  55. Aber Josef, der nun alle
  56. Sehnsucht fühlt, die sie einst fühlte,
  57. Wie er will zu sich herüber
  58. Ziehn die säumende, zerreißt er
  59. Heftig ihr den Saum des Hemdes.
  60. Gabriel (im Brautgemache
  61. War er mit dabei) sprach lächelnd:
  62. „Hemd um Hemde, ausgeglichen
  63. Ist die Rechnung, und die Sühne
  64. Gegenseitig. Gott besohlen!“
  65. Rief’s und gieng, und schloss die Kammer
  66. Leise zu mit Himmelsdufte
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Quelle: https://balladen.net/rueckert/jusuf-und-suleicha/