Das verschleierte Bild zu Sais

eine Ballade von Friedrich Schiller
  1. Ein Jüngling, den des Wissens heißer Durst
  2. Nach Sais in Ägypten trieb, der Priester
  3. Geheime Weisheit zu erlernen, hatte
  4. Schon manchen Grad mit schnellem Geist durcheilt,
  5. Stets riß ihn seine Forschbegierde weiter,
  6. Und kaum besänftigte der Hierophant
  7. Den ungeduldig Strebenden. »Was hab ich,
  8. Wenn ich nicht alles habe?« sprach der Jüngling.
  9. »Gibts etwa hier ein Weniger und Mehr?
  10. Ist deine Wahrheit wie der Sinne Glück
  11. Nur eine Summe, die man größer, kleiner
  12. Besitzen kann und immer doch besitzt?
  13. Ist sie nicht eine einzge, ungeteilte?
  14. Nimm einen Ton aus einer Harmonie,
  15. Nimm eine Farbe aus dem Regenbogen,
  16. Und alles, was dir bleibt, ist nichts, solang
  17. Das schöne All der Töne fehlt und Farben.«
  18. Indem sie einst so sprachen, standen sie
  19. In einer einsamen Rotonde still,
  20. Wo ein verschleiert Bild von Riesengröße
  21. Dem Jüngling in die Augen fiel. Verwundert
  22. Blickt er den Führer an und spricht: »Was ists,
  23. Das hinter diesem Schleier sich verbirgt?«
  24. »Die Wahrheit«, ist die Antwort. – »Wie?« ruft jener,
  25. »Nach Wahrheit streb ich ja allein, und diese
  26. Gerade ist es, die man mir verhüllt?«
  27. »Das mache mit der Gottheit aus«, versetzt
  28. Der Hierophant. »Kein Sterblicher, sagt sie,
  29. Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.
  30. Und wer mit ungeweihter, schuldger Hand
  31. Den heiligen, verbotnen früher hebt,
  32. Der, spricht die Gottheit –« –
  33. »Nun?« – »Der sieht die Wahrheit.«
  34. »Ein seltsamer Orakelspruch! Du selbst,
  35. Du hättest also niemals ihn gehoben?«
  36. »Ich? Wahrlich nicht! Und war auch nie dazu
  37. Versucht.« – »Das fass ich nicht. Wenn von der Wahrheit
  38. Nur diese dünne Scheidewand mich trennte –«
  39. »Und ein Gesetz«, fällt ihm sein Führer ein.
  40. »Gewichtiger, mein Sohn, als du es meinst,
  41. Ist dieser dünne Flor – für deine Hand
  42. Zwar leicht, doch zentnerschwer für dein Gewissen.«
  43. Der Jüngling ging gedankenvoll nach Hause.
  44. Ihm raubt des Wissens brennende Begier
  45. Den Schlaf, er wälzt sich glühend auf dem Lager
  46. Und rafft sich auf um Mitternacht. Zum Tempel
  47. Führt unfreiwillig ihn der scheue Tritt.
  48. Leicht ward es ihm, die Mauer zu ersteigen,
  49. Und mitten in das Innre der Rotonde
  50. Trägt ein beherzter Sprung den Wagenden.
  51. Hier steht er nun, und grauenvoll umfängt
  52. Den Einsamen die lebenlose Stille,
  53. Die nur der Tritte hohler Widerhall
  54. In den geheimen Grüften unterbricht.
  55. Von oben durch der Kuppel Öffnung wirft
  56. Der Mond den bleichen, silberblauen Schein,
  57. Und furchtbar wie ein gegenwärtger Gott
  58. Erglänzt durch des Gewölbes Finsternisse
  59. In ihrem langen Schleier die Gestalt.
  60. Er tritt hinan mit ungewissem Schritt,
  61. Schon will die freche Hand das Heilige berühren,
  62. Da zuckt es heiß und kühl durch sein Gebein
  63. Und stößt ihn weg mit unsichtbarem Arme.
  64. Unglücklicher, was willst du tun? So ruft
  65. In seinem Innern eine treue Stimme.
  66. Versuchen den Allheiligen willst du?
  67. Kein Sterblicher, sprach des Orakels Mund,
  68. Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.
  69. Doch setzte nicht derselbe Mund hinzu:
  70. Wer diesen Schleier hebt, soll Wahrheit schauen?
  71. »Sei hinter ihm, was will! Ich heb ihn auf.«
  72. (Er rufts mit lauter Stimm.) »Ich will sie schauen.« Schauen!
  73. Gellt ihm ein langes Echo spottend nach.
  74. Er sprichts und hat den Schleier aufgedeckt.
  75. Nun, fragt ihr, und was zeigte sich ihm hier?
  76. Ich weiß es nicht. Besinnungslos und bleich,
  77. So fanden ihn am andern Tag die Priester
  78. Am Fußgestell der Isis ausgestreckt.
  79. Was er allda gesehen und erfahren,
  80. Hat seine Zunge nie bekannt. Auf ewig
  81. War seines Lebens Heiterkeit dahin,
  82. Ihn riß ein tiefer Gram zum frühen Grabe.
  83. »Weh dem«, dies war sein warnungsvolles Wort,
  84. Wenn ungestüme Frager in ihn drangen,
  85. »Weh dem, der zu der Wahrheit geht durch Schuld,
  86. Sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.«
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