Kassandra

eine Ballade von Friedrich Schiller
  1. Freude war in Trojas Hallen,
  2. Eh die hohe Feste fiel,
  3. Jubelhymnen hört man schallen
  4. In der Saiten goldnes Spiel.
  5. Alle Hände ruhen müde
  6. Von dem tränenvollen Streit,
  7. Weil der herrliche Pelide
  8. Priams schöne Tochter freit.
  9. Und geschmückt mit Lorbeerreisern,
  10. Festlich wallet Schar auf Schar
  11. Nach der Götter heilgen Häusern
  12. Zu des Thymbriers Altar.
  13. Dumpferbrausend durch die Gassen
  14. Wälzt sich die bacchantsche Lust,
  15. Und in ihrem Schmerz verlassen
  16. War nur eine traurge Brust.
  17. Freudlos in der Freude Fülle,
  18. Ungesellig und allein,
  19. Wandelte Kassandra stille
  20. In Apollos Lorbeerhain.
  21. In des Waldes tiefste Gründe
  22. Flüchtete die Seherin,
  23. Und sie warf die Priesterbinde
  24. Zu der Erde zürnend hin:
  25. »Alles ist der Freude offen
  26. Alle Herzen sind beglückt,
  27. Und die alten Eltern hoffen,
  28. Und die Schwester steht geschmückt.
  29. Ich allein muß einsam trauern,
  30. Denn mich flieht der süße Wahn,
  31. Und geflügelt diesen Mauern
  32. Seh ich das Verderben nahn.
  33. Eine Fackel seh ich glühen,
  34. Aber nicht in Hymens Hand,
  35. Nach den Wolken seh ichs ziehen,
  36. Aber nicht wie Opferbrand.
  37. Feste seh ich froh bereiten,
  38. Doch im ahnungsvollen Geist
  39. Hör ich schon des Gottes Schreiten,
  40. Der sie jammervoll zerreißt.
  41. Und sie schelten meine Klagen,
  42. Und sie höhnen meinen Schmerz,
  43. Einsam in die Wüste tragen
  44. Muß ich mein gequältes Herz,
  45. Von den Glücklichen gemieden
  46. Und den Fröhlichen ein Spott!
  47. Schweres hast du mir beschieden,
  48. Pythischer, du arger Gott!
  49. Dein Orakel zu verkünden,
  50. Warum warfest du mich hin
  51. In die Stadt der ewig Blinden
  52. Mit dem aufgeschloßnen Sinn?
  53. Warum gabst du mir zu sehen,
  54. Was ich doch nicht wenden kann?
  55. Das Verhängte muß geschehen,
  56. Das Gefürchtete muß nahn.
  57. Frommts, den Schleier aufzuheben,
  58. Wo das nahe Schrecknis droht?
  59. Nur der Irrtum ist das Leben,
  60. Und das Wissen ist der Tod.
  61. Nimm, o nimm die traurge Klarheit,
  62. Mir vom Aug den blutgen Schein,
  63. Schrecklich ist es, deiner Wahrheit
  64. Sterbliches Gefäß zu sein.
  65. Meine Blindheit gib mir wieder
  66. Und den fröhlich dunkeln Sinn,
  67. Nimmer sang ich freudge Lieder,
  68. Seit ich deine Stimme bin.
  69. Zukunft hast du mir gegeben,
  70. Doch du nahmst den Augenblick,
  71. Nahmst der Stunde fröhlich Leben,
  72. Nimm dein falsch Geschenk zurück!
  73. Nimmer mit dem Schmuck der Bräute
  74. Kränzt ich mir das duftge Haar,
  75. Seit ich deinem Dienst mich weihte
  76. An dem traurigen Altar.
  77. Meine Jugend war nur Weinen,
  78. Und ich kannte nur den Schmerz,
  79. Jede herbe Not der Meinen
  80. Schlug an mein empfindend Herz.
  81. Fröhlich seh ich die Gespielen,
  82. Alles um mich lebt und liebt
  83. In der Jugend Lustgefühlen,
  84. Mir nur ist das Herz getrübt.
  85. Mir erscheint der Lenz vergebens,
  86. Der die Erde festlich schmückt,
  87. Wer erfreute sich des Lebens,
  88. Der in seine Tiefen blickt!
  89. Selig preis ich Polyxenen
  90. In des Herzens trunkenem Wahn,
  91. Denn den besten der Hellenen
  92. Hofft sie bräutlich zu umfahn.
  93. Stolz ist ihre Brust gehoben,
  94. Ihre Wonne faßt sie kaum,
  95. Nicht euch Himmlische dort oben
  96. Neidet sie in ihrem Traum.
  97. Und auch ich hab ihn gesehen,
  98. Den das Herz verlangend wählt,
  99. Seine schönen Blicke flehen,
  100. Von der Liebe Glut beseelt.
  101. Gerne möcht ich mit dem Gatten
  102. In die heimsche Wohnung ziehn,
  103. Doch es tritt ein stygscher Schatten
  104. Nächtlich zwischen mich und ihn.
  105. Ihre bleichen Larven alle
  106. Sendet mir Proserpina,
  107. Wo ich wandre, wo ich walle,
  108. Stehen mir die Geister da.
  109. In der Jugend frohe Spiele
  110. Drängen sie sich grausend ein,
  111. Ein entsetzliches Gewühle,
  112. Nimmer kann ich fröhlich sein.
  113. Und den Mordstahl seh ich blinken
  114. Und das Mörderauge glühn,
  115. Nicht zur Rechten, nicht zur Linken
  116. Kann ich vor dem Schrecknis fliehn,
  117. Nicht die Blicke darf ich wenden,
  118. Wissend, schauend, unverwandt
  119. Muß ich mein Geschick vollenden,
  120. Fallend in dem fremden Land.« –
  121. Und noch hallen ihre Worte,
  122. Horch! da dringt verworrner Ton
  123. Fernher aus des Tempels Pforte,
  124. Tot lag Thetis‘ großer Sohn!
  125. Eris schüttelt ihre Schlangen,
  126. Alle Götter fliehn davon,
  127. Und des Donners Wolken hangen
  128. Schwer herab auf Ilion.
Kassandra von Friedrich Schiller wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

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