- Im Osten stand des Tags prophetisches Gestirn.
- Des Dämons Schwingen rauschten um Apollons Stirn.
- «Wach auf! Schmeckt nicht dein Mund, spürt nicht dein Herz, Apoll,
- Den nahen Tag, klarheit- und mut- und tatenvoll?
- Hört deine Sehnsucht nicht vom Feld das Trittehallen
- Der Reisechorgesänge, die nach Erden wallen?
- Dein Neid von Busch zu Bach das Wanderglücksgeflüster
- Der Freundespaare, leuchtend durch das Dämmerdüster?
- Und du, vor Zeiten einst an Wagemut und Willen
- Der Fürst, du moderst hier im Trägen und im Stillen!»
- Apoll erklärte: «Erdwärts zielt für mich zu nieder,
- Und mit dem vielen Volk die Fahrt läuft mir zuwider.»
- «Führt ich dich jemals», rief der Dämon, «in den Haufen?
- Auf andre Pfade, sprich, als stolze Steg und Staufen?»
- Apoll erwiderte: «Das ist mir nicht genug.
- So steil der Horizont, so geil der Heuchler Lug.
- Weißt du mir einmal einen frischen Himmelsbogen,
- Hoch, frei und rein, darin noch niemals ward gelogen,
- Den keine Pfiffigkeit befleckte mit Verrat,
- Weil ihn kein Schlechter kennt, kein Feiger je betrat,
- Wohlan, dann melde dich, dann bin ich dein. Einstweilen
- Schließ ich die Fenster, von dem Heuchelhauch zu heilen.»
- «Was du bedingst», versprach der Dämon, «bring ich dir:
- In einen frischen Raum, Entdecker, folge mir.»
- Verwundert hob Apoll das Haupt, des Wortes Kern
- Und Geist zu lesen in des Sprechers Augenstern.
- Und sieh zum Beispiel seines Spruchs und Wahrheitssiegel
- Das Abbild eines Firnlichts glänzen aus dem Spiegel.
- Indes des Dämons aufgeregte Reiseschwingen
- Von Hochmut redeten und fürstlichem Gelingen.
- Aufsprang Apoll beseelt: «Voran! Ich folge mit.»
- Und auf des Hochgebirges Treppe trat ihr Tritt.
- Als sie erklommen das Gefäll der wilden Wand,
- Wo Fluh auf Flühen saß und Tann ob Tannen stand:
- «Was seh ich schimmern», rief Apoll, «im finstern Holz?
- Welch eines Weibes Schönheit scheinen, hehr und stolz?
- Ists Aphrodite, die mein staunend Auge schaut?
- Ists Hera selbst, die Falsche, hoheitübertaut?»
- Doch wie er stetig steigend nach dem Bilde blinkte,
- Geschah ihm Freundesgruß, und eine Stimme winkte:
- «Was wimpern so erstaunt und zwinkern deine Lider?
- Kennst du, Apoll, nicht Artemis die Freundin wieder?»
- «Wofür», begann Apoll, «kamst du hierher gegangen?»
- «Dich zu begrüßen, Freund, und lieblich zu empfangen.»
- «Wer gab dir Vorsicht meines Wegs und Vorempfinden?»
- «Ich wußt: auf Adlerhöhen ist Apoll zu finden.»
- «Und magst du, Traute, mit mir ziehn als Weggeselle?»
- «In alle Zeit, durch jeden Raum, zur fernsten Stelle.»
- «Dein Mund haucht Mut. An meine Seite schließe dich!»
- So zogen sie den Gang empor einträchtiglich.
- Und als, vom Walde mündend auf den freien Plan,
- Sie sich im Heitern auf der Bergeskuppel sahn,
- Da schritten sie zusammen nach dem Rasenrand
- Und schickten ihre Blicke übers tiefe Land.
- «Wohl mir», sprach Artemis, «hier oben weil ich gerne,
- Mein Liebling neben mir und das Gemeine ferne.»
- So rasteten sie müßig, mit den Augen nur
- Geschäftig, auf der klaren tagumblauten Flur.
- Horch! Rätselhaftes Rauschen, freudig, heldenharsch,
- Wie eines Feldherrn Schimmeltanz im Heeresmarsch.
- Ah! Aufschein eines strahlenkranzumzuckten Lichts,
- Sieh, hinterm Berghorn. Stille, ringsum Ruhe: Nichts,
- Erwartung, Täuschung. Da, mit einmal um die Spitze
- Blendet der starke Sonnenwagen. Stachelblitze
- Entfeuernd, treibt er flammenlodernd durch die Luft.
- Beständig wächst er, stetig mindert sich die Kluft.
- Jetzt jubelndes Gewühl von Wimpeln, Farbengold:
- Und dröhnend kommt das Schöngetüm ans Land gerollt.
- «Halt!» herrschte Helios. Stampfend standen die Maschinen.
- Und krabbelnd aus des Wagens Muschelkorb erschienen
- Ein Büschel Angesichter, frisch und lebensfroh,
- Gefolgt von Schultern, Armen, Hüften ebenso.
- Und als das Ganze schließlich, wie es kam und schlüpfte,
- Aus dem Gefängnis auf den grünen Rasen hüpfte,
- Da warens Helios‘ Töchter. Muntern Lachens sprangen
- Sie auf der Matte hin und wider, im Verlangen,
- Die Reiseglieder zu entsteifen und die jungen
- Von Übermut und Spottlust überfüllten Lungen
- Zu lüften. Dann, hinüberlaufend nach dem Quell,
- Kämmten sie sich und wuschen sich vom Ruße hell.
- Geneigten Blickes nahm das kecke Schauspiel wahr
- Und schlenderte zum Wagen hin das Freundespaar.
- «Daß euch! Ihr Elstern!» schalt mit väterlichem Grimme
- Vom Wagenkorb hernieder Helios‘ Biederstimme,
- «Ist das nun der Erziehung und der Sittenzucht,
- Womit ich täglich mich ereiferte, die Frucht?
- Ich habe wahrlich mehr Verstand in meinen Füßen
- Als ihr im Kopf. Wollt ihr wohl gleich gebührlich grüßen,
- Ihr blinden Hummeln? Hopla, hurtig, regt euch, knickt
- Und reichet ordentlich die Hände, wie sichs schickt.»
- Bestürzt erröteten die Töchter, schämten sich
- Und huschten zu dem Freundespaare. Ordentlich
- Die Hand zum Gruße bietend, mit bescheidnem Knicken,
- Indes der Mutwill lacht aus ihren Augenblicken.
- Selbst aber lud die fremden Gäste hübsch und fein
- Helios zum Anblick seiner Sonnenschmiede ein,
- Wo er, dem unerwarteten Besuch zu Ehren,
- Gütig das wundersame Triebwerk mocht erklären:
- Der Räder Hin- und Widerschwung, der Kolben Wechsel,
- Der Kurbeln Handlichkeit, der Stößel Macht und Drechsel
- Nebst allem übrigen, was etwa außerdem
- Merkwürdiges bot des Fahrwerks künstliches System.
- Dann, um die Kraft der Unterweisung zu ergänzen,
- Ließ er zum klugen Wort der Taten Beispiel glänzen,
- Indem er mit dem Sonnenschiff im luftigen Meer
- Vor ihren Augen fuhr ein Weilchen hin und her.
- Vorsichtig aber schleifte längs der Küstenzeile
- Das Fahrzeug, und die Sonne, wahrlich, hing am Seile.
- «Erfahrner Meister», frug Apoll, «erkläre mir:
- Verzeih das freie Wort – was nützt das Schleppseil hier?
- Sahst jemals einen Vogel du am Gängelbande?
- Warum auch fährst du gar so ängstlich längs dem Lande?
- Meinst du nicht selbst vielleicht, im Weiten und im Freien
- Müßte die Sonnenreise herrlicher gedeihen?»
- «O Fremdling», schmunzelte der Meister überlegen,
- «Was einer nicht versteht, das laß er unterwegen!
- Dann nützen die Gewalten, wenn im Zaum gehalten.
- Der Weise zügelt, nur ein Tor läßt Willkür walten.»
- Er sprachs. Da drehte Artemis sich lachend um.
- «Was lachst du?» fragte Meister Helios‘ Miene stumm.
- «Ich lache», rief sie, «weil das Lustspiel mich vergnügt,
- Wenn Meister Schmied den göttlichen Apollon rügt.»
- Ein Freudensturm, ein Aufruhr der Ergebung scholl,
- Als Artemis gestand den Namen des Apoll.
- Die Wangen küßten ihm, die Schultern und die Hände
- Die Sonnentöchter. Aber klagend ohne Ende
- Rief Helios: «Schmach der Kränkung, die du mir getan,
- Apoll, daß du dich gabst für meinen Schüler an,
- Der du mein überlegner Herr und König bist,
- Und keiner lebt, der dir an Kunst gewachsen ist.»
- «Freund», sprach Apoll, «laß dich den Irrtum nicht verdrießen.
- Den Vorteil deiner Lehre mocht ich gern genießen.
- Denn niemand ist so groß, und reicht er zu den Sternen,
- Eh daß er etwas kann, muß ers bescheiden lernen.
- Nun aber laß versuchen, ob ich wohl alleine
- Die Sonne führen möge, freihin, ohne Leine.»
- So sprechend, ließ er lösen alle Tau und Stricke.
- «Dämon, stehst du mir bei? Wenn ja, ein Zeichen schicke!»
- Und siehe da im Waffentanz den Dämon schreiten.
- Da sprang er kurz an Bord und ließ die Sonne gleiten.
- Jetzt gleich wie unterm Sattel ein erlesen Pferd
- Schönhüpft, wenn es den Reiter merkt, der seiner wert,
- Und gleich dem Schwan, der stolzen Flügelschlags den Gischt
- Aufpeitscht und aus gebognem Halse Hochmut zischt:
- So segelte die Sonne, als sie kaum verspürte,
- Daß selbst der königliche Held Apoll sie führte,
- Mit aufgeblähtem Wimpelwald in ebnem Flug
- Glückaus ins Blau, durch Ätherglanz und Wolkenzug.
- Bewundernd beugten mit dem Vater Haupt und Knie
- Die Sonnentöchter. «Preis der Großtat!» jauchzten sie.
- Leichthin versetzte Artemis: «Was jauchzt ihr bloß?
- Sein Werk ist seiner nur ein Teil. Er selbst ist groß.»
- Doch welche Wandlung jetzt begibt sich mit Apoll?
- Sein Haar fliegt auf. Sein ruhig Auge hoheitsvoll
- Strebt aus den Höhlen. Auf die Bank des Wagens steigt
- Im Sprung sein Fuß. Zum fernsten Horizonte zeigt
- Sein Finger, herrisch fordernd wie zu Streit und Fehde.
- Und stammelnd von der Zunge taumelt ihm die Rede.
- «Nein», rief er, «das ist keine Täuschung! Es ist wahr:
- Mit meinen wachen Augen nehm ichs deutlich wahr;
- Jenseits der Welt, wo Wissenschaft und Ahnung schweigen,
- Seh ich von einem neuen Gau ein Wölklein steigen.
- Das ist mit wonnigen Glückes Seligkeit beladen,
- Ein Widerschein, der zeugt von bessern Weltgestaden,
- Eja! Nicht will ich aus dem Sonnenwagen steigen,
- Zum Schlummer nicht fürwahr die müde Schläfe neigen,
- Eh meine Augen jenes Gaues Gärten grüßen
- Und das gesegnete Gestad mir liegt zu Füßen.»
- Und als ob dieser Rede Helios, der Entsetzte,
- Mit Warnungen die väterliche Zunge wetzte,
- Schwatzend den Kehrreim von der «Führerin Natur»
- Und also fort und «Nie verlassen ihre Spur»:
- «Ai!» rief Apoll, «Weisheit, welch schauerliche Speise!
- Wer wagts? Wer unternimmt mit mir die Heldenreise?»
- Da sah man Artemis von edlem Mut erglühn.
- Vom Rasenbord sich furchtlos schwingend, lief sie kühn
- Mit hochgehobnen Armen ihm entgegen. Schon
- Hielt sie entschlossen neben ihm im Wagenthron,
- Der Atem mutbewegt, die gläubge Stirn erleuchtet,
- Das strenge Augenpaar vom Liebesblick befeuchtet.
- «Du!» rief Apoll stirnrunzelnd, «du getraust dich viel!
- Ins Unbekannte ist kein Scherz und Weiberspiel.
- Der Ansprung tut es nicht. Geduld darf nicht versagen.
- Und wer mich hindert, wisse, werf ich aus dem Wagen.»
- Freudig erwidert Artemis: «Tu also! ja!»
- «Ists also», sprach Apoll, «willkommen! bleib mir nah!»
- «Haian! Paian!» Jetzt Räderrollen, Dampfgebraus,
- Und tosend fuhr der Wagen in den Raum hinaus.
- Durch weite Demantstrahlenmeere, wonnige Engen
- Von farbendämmernden erlauchten Wolkengängen,
- Umschwirrt von Schwalbenschrei, umwühlt von Glanzgewimmel,
- Durch blaue bald und bald durch goldne Rosenhimmel.
- Und eifersüchtige Adler kamen, mit den Fängen
- Sich flatternd an die Sonnenräder anzuhängen.
- Und während hinter ihnen Gruß und Grün verschied,
- Begann und jauchzte Artemis das Reiselied:
- «Trara! Hört ihr den Schrei der Kriegstrompeten klingen?
- Ein Morgenlied aus vollem Halse laßt mich singen.
- Vom Licht bin ich berauscht, vom Lichte muß ich tönen,
- Drum sing ich von den reisemutigen Sonnensöhnen:
- Zwei weiße Reiter seh ich durch den Weltraum blitzen,
- Zwei Feuerfähnlein sprühn auf ihren Lanzenspitzen.
- Auf ihrem blanken Helm nimmst du kein Stäubchen wahr:
- Das ist der Dioskuren edles Zwillingspaar,
- Die im Geläut die lichtgebornen Rosse strecken,
- Helana, die verlorne Schwester, zu entdecken
- Jenseits, im Metakosmos, wo der Hesperiden
- Gesegnet Eiland liegt, besonnt von Glück und Frieden.
- Und fragst du nach dem Führer, Leitstern und Kompasse,
- Der ihnen durch den Luftraum weist die rechte Gasse,
- Vernimm: des Herzens Hoffnung ist der Vorderreiter,
- Und Mut und Glaube sind die trefflichen Begleiter.
- Weil, gleich der Täubin, die der körnerreichen Blache
- Entsteigt und steuert nach dem heimatlichen Dache,
- Helana von der seligen Insel, wo sie weilt,
- Dem langentbehrten Brüderpaar entgegeneilt.
- Was meint ihr, welcher Freudentaumelsturm geschah
- Da, wo Helana ihre Brüder wiedersah?
- Wenn man mir sagte: Heida, zeichne mit dem Stift
- Die Stelle, wo man keusches Glück im Weltall trifft,
- Zwei Striche führt ich kreuzweis über jenen Ort,
- Und mit dem Finger nach der Kreuzung weisend: dort!
- Spott euch, ihr Dioskuren! müßt euch doch bescheiden,
- Um eine beßre Himmelfahrt mich zu beneiden.
- Denn nicht zum fernen Liebling zieh ich aus wie ihr:
- Mein Fürst, mein Held, mein Bräutigam steht neben mir.
- Ich kann ihn schaun, darf Blick und Odem mit ihm tauschen,
- Und seines Dämons großen Fittich hör ich rauschen.»
- Die Worte jauchzte Artemis. Und unterhalb
- Der Sonnenreise stand auf jeder grünen Alp
- Das Göttervolk und Mensch und Tier, in Hast versammelt,
- Die Botschaft zu gewahren, die der Ruhm gestammelt.
- Die Erde ward und der Olympos laut von Grüßen,
- Und Beifall streckt ein Jubelband zu ihren Füßen.
- Über den Wagen lehnte Artemis sich vor,
- Da lief die Welt ihr nach und rief zu ihr empor:
- «Was magst du? Wähle ohne Ziererei und Scham!
- Ich habe aller Dinge War in meinem Kram.
- Sag an: willst du vielleicht Gebirge?» Sprachs und warf
- Sie kettenweise hin. «Sind Fluren dein Bedarf?
- Da nimm sie! Willst du Stadt und Dörfer? Flüß und Seen?
- Ich habs zu Hunderten. Schau her, da kannst dus sehen.»
- Und tollen Laufes taumelten, mit Blust beladen,
- Vorbei die Hügelreihen, hingemäht in Schwaden.
- Indes dahinten, links und rechts, im Gegenzug
- Bedächtige Wälder gingen mit dem Wagenflug.
- Doch welterhaben, stolzen Schrittes stetig stieg
- Das Sonnenschiff, und seine Räder rollten Sieg.
- Und also weiter ohne Fährde noch Beschwerde,
- Solange sich die Reise hielt im Bann der Erde.
- Doch wie sie folgends hinterm letzten Erdensaum
- Einfuhren in den unbewohnten Weltenraum,
- Wo statt des Lebenshauches trauter Atmosphäre
- Nüchtern und farblos klaffte wesenlose Leere,
- Kein Ton das Ohr, kein Gegenstand das Auge grüßte,
- Ja selbst die Wolke mangelte der Strahlenwüste,
- Begann von den olympischen Königsadlern vielen
- Einer zu blinzeln und nach seinem Schwanz zu schielen.
- Husch, fiel er unversehens heimlich hinten ab.
- Die andern nach, getreu dem Beispiel, das er gab.
- «Ach!» seufzte Artemis, «mir bangt in diesen Gassen,
- Wo selbst die höhenkundigen Adler uns verlassen.»
- Apollon höhnte: «Ei, laß ziehen doch die Geier!
- Erleichtert von den halben Freunden fährt sichs freier.»
- Und weiter wetterte die kühne Fahrt nach oben.
- Da sieh, von abertausend Mücken und Mikroben
- Tanzt um den Sonnenwagenlauf ein feiger Schwarm,
- Frechheit im Rüssel, Untertänigkeit im Darm.
- Und alle wußten unumstößlich zu beweisen,
- Er fahre fehl, die eitle Hochfahrt müß entgleisen.
- Schüchtern begann, bescheiden fragend Artemis:
- «Bist du, o Freund, des rechten Weges auch gewiß?»
- «Schmach, daß du», rief Apoll, «an das Geschmeiß dich kehrst!
- Des Maulwerks Platz ist hinterm Rad. Einst fahr ich erst.»
- Und weiter wetterte zur Höh die kühne Fahrt,
- Umringt von Öde, mit Unendlichkeit gepaart.
- «Ach weh!» stöhnt Artemis, «im Nichts kann nichts gelingen.
- Unmöglichkeiten kann Apollon selbst nicht zwingen.»
- «Nunmehr», verwarnte scharf Apoll, «entscheide dich!
- Bist du Genosse? Oder Feind und wider mich?»
- Nun schwieg sie. Aber während ewig einerlei
- Die Stunden gähnten durch die Ätherwüstenei,
- Erlosch ihr Blick, die willenlosen Augensterne
- Starrten verzweifelt und ergeben in die Ferne.
- Durch flüchtige Pulse jagte wüstes Denkgeschwirre,
- Ihr Herz ward traurig und ihr schöner Glaube irre.
- «Doch still! Beinahe kam mir vor, ich röche Rauch,
- Wie eines unsichtbaren Herdes Waldeshauch.»
- «Das war ein Ton! Hast du gehört? Doch doch!» «Was hat
- Mich an die Wange da gestreift? Ein Blumenblatt.
- Schau her! Noch eins!» «Und dort: ein Küstennebelmeer!»
- «Und fremde Adler werfen ihren Schrei umher!»
- «Zu hinterst Schatten wie verhüllte Berggestalten!»
- «Ja, das ist lebend Land! Hier kann nicht Täuschung walten!»
- «Erreicht, erschwungen!» rief Apoll. Der Wagen stand,
- Gehemmt vom trotzgen Querwall einer Wolkenwand.
- Verworrenes Geräusch, das wonnige Laute rief,
- Verriet ein holdes Rätsel, das dahinter schlief.
- Über dem Wolkenscheitel schwankt ein Schemen auf:
- «Wer wagt zu diesem niebetretnen Herd den Lauf?
- Nach welchem Ziele strebst du? Was begehrst du hier?»
- «Zur Weltenkuppel hob mich Mut und Hochbegier,
- Und meine Sehnsucht sprach: zum Sieg oder Verderben!
- Was muß ich tun, sag an, mir Einlaß zu erwerben?»
- «Mit Gram und Sorge mußt du um den Schlüssel werben.»
- «Willkommen Sorg und Gram! Der Schlüssel tut mir not.»
- «Ists also, wohl! Vernimm Bedingung und Gebot:
- Ein Bogen wird dir werden und ein scharfer Pfeil.
- Kein zweiter gilt; von diesem einzigen hoffe Heil.
- In dieser Wolkenwand, dem Auge unsichtbar,
- Befindet sich ein Zweck, nicht breiter als ein Haar.
- Mit dunkler Ahnung muß der Treffer dir gelingen,
- So wird der Vorhang fliehen und die Pforte springen.
- Doch hast du deinen einzigen Pfeil umsonst verschossen,
- Kehr um, zieh heim; auf ewig bleibt das Tor verschlossen,
- Auf jetzt! Greif zu! Versammle deine Seelenangst,
- Ob dus errätst, ob dus erzweifelst und erbangst.»
- Nach diesen Worten flogen Pfeil und Bogen her.
- Als er den Bogen aufnahm, seufzt Apoll: «Wie schwer!»
- Als er den Pfeil auflegte und die Sehne strengte,
- Beschlich ihn Zweifel, der sein Urteil trübt und mengte.
- Als er die Arme zum Entscheidungsschuß erhoben
- Und sah nicht Ziel noch Zweck, nicht unten und nicht oben,
- Zur Linken keinen Deut und rechts nicht Wink noch Rat,
- Wankt er enttäuscht zurück: «Ich tauge nicht zur Tat!»
- Wohl rafft er reuig den Entschluß von neuem wieder,
- Doch immer sanken Mut und Arm ihm kraftlos nieder.
- Bis daß zuletzt Verzweiflung ihm den Willen lieh:
- Die Waffe legt er aus den Händen, fiel aufs Knie,
- Neigte das Haupt, verhüllte sich das Angesicht,
- Und eine Weile regt er sich und rührte nicht.
- Und als er wiederum die Stirn dem Tag vertraute,
- Da wars ein Mann, der aus dem Jünglingsantlitz schaute.
- Plötzlich ein Griff, ein Sprung. Und vom gespannten Bogen
- War Blick und Pfeil zugleich der tapfern Tat entflogen.
- «Weh mir und Mitleid! Fehlt ich?» frug der Schütze bang.
- Doch sieh: da schwankte, teilte sich der Wolkenhang,
- Und aus dem Schleier trat, gleich einer Jungfrau hold,
- Das Land der Oberwelt in Glück und Farbengold.
- Ein Wald von Blumen, ein Vulkan von Schmetterlingen,
- Und Berg und Täler, laut von Silberquellenspringen.
- Die Hände reichten sich, ergriffen, inverschwiegen
- Apoll und Artemis, worauf ans Land sie stiegen.
- Und sieh vom Berg gebieterisch den Schemen nahn,
- Des Schatten auf dem Wolkengipfel jüngst sie sahn.
- Er sprach, die Hände auf Apollons Scheitel faltend:
- «Als dieses Landes König, meines Amtes waltend,
- Das mir gebührt, erklär ich laut und feierlich:
- Mit Metakosmos‘ Inselreich belehn ich dich.
- Gebirg und Täler sollen deinen Namen tönen,
- Apoll. Jetzt aber, Sieger, laß vom Ruhm dich krönen!
- Dreifach, Apoll, ist deines Ruhmes Fürstenkrone:
- Du hasts geglaubt, das zeugt, daß Adel in dir wohne.
- Du hasts gewollt, das spricht, daß Heldenmut dich stählt,
- Du hasts gekonnt: du bist aus Tausenden erwählt.
- Nunmehr tritt ein, folg deinem Wunsch, lustwandle frei!
- Ich grüße dich, mein Werk ist all, mein Amt vorbei.»
- So sprechend, wandte sich der Schemen. Aber jach,
- Am Schritt ihn jetzt erkennend, eilt Apoll ihm nach
- Und faßte seinen Mantel: «Was betrügst du mich?
- Du bist mein eigner Dämon; ich erkenne dich.»
- Der Dämon sprach: «Ich bin es, ja. Wann sagt ich nein?
- Der Irrtum, der dein Urteil täuschte, er ist dein.»
- «Wie bist du ernst und fremd und hoch von Wuchs geraten!»
- «Ei, was befremdet dich? Ich wuchs durch deine Taten.»
- «Du fehltest mir, als pfadlos ich durch Wüsten fuhr.»
- «Ich ehrte dich: am Ziele harrt ich deiner Spur.»
- Hier endete der Spruch. Die Trennung ward geschlossen.
- Der Dämon schied. Indes die freundlichen Genossen
- Landeinwärts vom Gestade strebten freudig nun,
- Neugierig, welch Geheimnis möcht im Innern ruhn.
- Auf eine Höhe kamen sie mit Namen ‚Selig‘,
- Dem Schmerz entrückt, lustreich, an Gütern überzählig,
- Bewohnt vom Hesperidenvolk, von Wesen gut,
- Von Anblick schön, das Böses weder kennt noch tut.
- Nie siehst du dortzuland ein mürrisches Gesicht:
- Die Wickelkinder in der Wiege weinen nicht,
- Und selbst beim Blumenfest im dichtesten Gemenge
- Hörst du kein Schelten, spürst du nirgends ein Gedränge.
- Denn statt der Schule, statt Gesetz und Sittenzwang
- Reimt eingeborne Lieblichkeit des Tages Gang.
- Indes, was brauchts der Wort und Schilderungen viele?
- Lern ihre Sinnesart aus diesem einzigen Spiele:
- Wenn zwei, wer immer auch, an sich vorübergehn,
- So lachen sie, solange sie einander sehn.
- Vor Freuden lachen sie, versteh, mit Aug und Munde.
- So wird das Leben inhaltreich und froh die Stunde.
- O welcher Wunder Fülle dann, erstaunlich gar,
- Zeigten der Hesperiden Gärten ihnen dar
- In hoher Gegenwart, vom ewgen Licht besiegelt!
- Das Vorgebirge sahn sie, wo sich jedes spiegelt
- Auf zweien Gegenfelsen namens ‚War‘ und ‚Wäre‘:
- Der eine schildert dir von überall die Märe,
- Was immer stündlich sich begibt; der andre Schroffen
- Der Dinge Möglichkeit, geträumt vom Herzenshoffen.
- Sie sahn den bösen Bruch, von wo entfiel die Welt;
- Die Halle, die der Dinge Musterbild enthält
- Nebst aller Wesen Urgestalt, vom Geist vermutet;
- Den Gießbach ferner, der in Harfenpsalmen flutet:
- Tief unten aus der Erde springen seine Quellen;
- Zum Liede schmilzt das Leid in diesen reinen Wellen.
- Den tiefen Waldsee ferner der Erinnerung,
- Wo das Vergeßne auferscheint, erfrischt und jung;
- Den Wendelberg, der sich verwandelt jeden Morgen,
- Und täglich neue Landschaft hält sein Hut verborgen;
- Die Zeder Amuna, die aus der Wahrheit sprießt:
- Der Irrtum schwindet, wer von seiner Frucht genießt.
- Hernach den Engpaß, wo die Stunden und Minuten
- In ewigem Wechselzuge hin und her sich sputen:
- Leicht heben sie den Fuß, hellsingend in der Frühe,
- Doch abends stumm, beschwert mit irdischer Not und Mühe.
- Doch als sie auch das Tal Eidophane zuletzt
- Entdeckten, wo, der Fesseln ledig, leibentsetzt,
- Vor deinem Blick lustwandelt dein enthülltes Ich:
- Hier stehst du, drüben grüßest du vom Walde dich –
- Da sprach Apollon: «Artemis, du edle Frau,
- Wenn ich die Seele dein vor mir lustwandelnd schau,
- So ist sie rein von Makel, wie von Golde lauter.»
- Darauf versetzte Artemis: «Geliebter, Trauter,
- Von lauterm Golde nicht, es ist ein Kern darinnen,
- Lebendig, warm und weich, der mag dich zärtlich minnen.»
- Und also weiter, durch des Eilands Überfluß.
- Nie fand der Wunsch Genüge, nie der Geist den Schluß,
- Weil neue Wunder schafften neue Zögernis.
- Bis daß der Zwang der Stunde sie von dannen riß.
- Und heimwärts zogen zum olympischen Gestade
- Apoll und Artemis ruhmreich die luftigen Pfade.
- Und es geschah um dieses Tages Mitternacht,
- Da sprach zu sich, aus traumbegabtem Schlaf erwacht,
- Apoll: «Welch geistisch Singen durch den Mondenschein
- Haucht aus der Höhe atmend in mein Herz hinein?
- Ich kenne diese Sprache, heimatlich bekannt,
- Und diese treue Stimme, herzlich anverwandt.»
- Und sieh: im Sternenhaus, vom Schlummergeist enttragen,
- Die Freundin Artemis, stehend im Mondenwagen.
- Schlafwandelnd lenkte sie durch schwindelhafte Räume
- Die blinde Fahrt. An ihrem Mantel hingen Träume.
- Phalänen huschten um die Räder. Und von ferne
- Folgten in leisem Zuge die erstaunten Sterne.
- Die Lippen öffnete die Heldin unbewußt,
- Die Zunge sprang, ein Hymnos quoll ihr aus der Brust:
- «Ich kann es nicht verschweigen, kann es nicht verschließen,
- Ich jauchz es in die Welt, und mags die Welt verdrießen:
- Es überhebt sich mir das Herz, es protzt, es prahlt,
- Weil meine Schläfen Sieg, die Schultern Ruhm umstrahlt.
- Nicht zwar für eigenes Verdienst aus meiner Kraft,
- Von einem andern, bessern zieh ich Lehenschaft,
- Von dem ich eitel bin ein matter Widerschein:
- Das ist mein Herr, mein Lehrer und Gebieter mein.
- Ein Aar an Ungestüm, ein Leu an heftiger Stärke,
- Doch nicht zu Haß und Hader, zum lebendigen Werke.
- Versöhnung lächelt, wo sein Augenblick geruht,
- Und was sein edler Finger stiftet, das ist gut.
- Und fragst du nach dem Namen, wer der Große wäre:
- Du Tor, von wem erzählt die Oberwelt die Märe?
- Wes Lobes ist der Himmel und die Erde voll?
- Wem beugt sich selber König Zeus? Sprich aus: Apoll.
- Du dort, zurück! Kriech in den Winkel, winziger Wicht!
- Schamloser Däumling, mit Apoll vergleich dich nicht!
- Umsonst! daß du die Zehen streckst, den Nacken steifst.
- Erst kniest du. Alsdann sorge, ob du ihn begreifst.
- Doch mir, wie mochte solche Gnade mir geschehn?
- Ich darf ihm aufrecht in die stolzen Augen sehn.
- Jawahr! Er duldet mich. Er zürnt nicht ‚fort von hier‘.
- Nein, ‚Freundin, Freundin‘ gönnt des Helden Zunge mir.
- Drum jauchzt mein Herz, drum muß mein Hochmut überquellen.
- Wo ist ein Wort, ein Ton, es durch die Welt zu gellen?»
- So sang für sich im Traum die hehre Schläferin,
- Mit blinder Hand den Wagen steuernd vor sich hin.
- Apoll vernahms, und heimlich einen ewigen Bund
- Schloß er mit Artemis im tiefsten Herzensgrund:
- «Ich fahre mehr in keine stolze Höh und Weite,
- Du ständest denn mit deinem Glauben mir zur Seite.
- Ja, wahrlich ja! Und hoffe niemand zu entzweien,
- Die einst ins Tal Eidophane geblickt zu zweien!»
Apoll, der Entdecker
… eine Ballade von Carl SpittelerApoll, der Entdecker von Carl Spitteler wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/spitteler/apoll-der-entdecker/
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