- Zwölf Engel hielten am Himmelstor:
- „Ihr Türmer herunter, ihr Wächter hervor!
- Was bringt ihr, ihr lieben Leute?“
- „Wir kommen geritten vom Erdenrund,
- Gar frohe Botschaft bringt unser Mund,
- Stimm an die Glocken und läute!“
- Und als das Pförtchen war aufgetan,
- Da setzten sie die Posaunen an
- Und bliesen aus vollen Wangen:
- „Juchhe, ihr Völker, juchhe, haja!
- Herbei ihr alle, halleluja!
- Die frohe Post zu empfangen:
- Worum wir inbrünstig gebetet oft,
- Was jeder ersehnte, was keiner gehofft,
- Es hat sich in Gnaden begeben.
- Wir kommen geritten von Erden fern:
- Erloschen, verglommen der blutige Stern,
- Verhaucht das unselige Leben.“
- Da flogen die Türen und Fenster auf,
- Und alle die Seligen eilten zu Hauf
- Und zogen zu Fuß und zu Pferde,
- Mit Pfeifern und Trommlern und Saitenspiel
- Und fröhlichem Schwatzen und Lachen viel,
- Hinab auf die einsame Erde.
- Doch als sie im glitzernden Sternenreich
- Gewahrten die traurige Weltenleich
- Verkohlt in den Wolken schwimmen,
- Da ging den Pfeifern der Atem aus,
- Und mancher wischt sich ein Tränlein aus
- Und tät ein Greinen anstimmen.
- Dann schlichen sie auf dem Riesengrab
- Mit heimlichen Flüstern talauf, talab
- Und erzählten mit Bangen und Zagen
- Von alter verschollener Menschenzeit,
- Von Krankheit und Sterben, von Zank und Streit
- Einander die schaurigen Sagen.
- Sie stifteten einen Sühnealtar,
- Drauf brachten die Priester die Messe dar
- Beim Klange der Trauerlieder.
- Ein Requiem aeternam lallt ihr Mund,
- Weihwasser sprengten sie auf den Grund
- Und flehten den Segen hernieder.
- Der Segen, der schwebte wohl über die Welt,
- Das Weihwasser rann übers Ackerfeld –
- Doch sieh! was will das bedeuten?
- Der Segen flog ängstlich im Kreis herum,
- Das Weihwasser wälzte sich um und um –
- Sagt an, was soll das bedeuten?
- Da sprach das Weihwasser: „Ich sehe, ich seh
- Auf Erden kein Plätzchen, wohin ich auch späh,
- Das nie eine Träne benetzt hat.“
- Und der Segen, der sprach: „Ich suche, ich such
- Einen Fleck, einen kleinen, den nicht der Fluch,
- Den nicht der Mord schon besetzt hat.“
Die tote Erde
… eine Ballade von Carl SpittelerDie tote Erde von Carl Spitteler wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.
Quelle: https://balladen.net/spitteler/die-tote-erde/
Quelle: https://balladen.net/spitteler/die-tote-erde/