Die tote Erde

eine Ballade von Carl Spitteler
  1. Zwölf Engel hielten am Himmelstor:
  2. „Ihr Türmer herunter, ihr Wächter hervor!
  3. Was bringt ihr, ihr lieben Leute?“
  4. „Wir kommen geritten vom Erdenrund,
  5. Gar frohe Botschaft bringt unser Mund,
  6. Stimm an die Glocken und läute!“
  7. Und als das Pförtchen war aufgetan,
  8. Da setzten sie die Posaunen an
  9. Und bliesen aus vollen Wangen:
  10. „Juchhe, ihr Völker, juchhe, haja!
  11. Herbei ihr alle, halleluja!
  12. Die frohe Post zu empfangen:
  13. Worum wir inbrünstig gebetet oft,
  14. Was jeder ersehnte, was keiner gehofft,
  15. Es hat sich in Gnaden begeben.
  16. Wir kommen geritten von Erden fern:
  17. Erloschen, verglommen der blutige Stern,
  18. Verhaucht das unselige Leben.“
  19. Da flogen die Türen und Fenster auf,
  20. Und alle die Seligen eilten zu Hauf
  21. Und zogen zu Fuß und zu Pferde,
  22. Mit Pfeifern und Trommlern und Saitenspiel
  23. Und fröhlichem Schwatzen und Lachen viel,
  24. Hinab auf die einsame Erde.
  25. Doch als sie im glitzernden Sternenreich
  26. Gewahrten die traurige Weltenleich
  27. Verkohlt in den Wolken schwimmen,
  28. Da ging den Pfeifern der Atem aus,
  29. Und mancher wischt sich ein Tränlein aus
  30. Und tät ein Greinen anstimmen.
  31. Dann schlichen sie auf dem Riesengrab
  32. Mit heimlichen Flüstern talauf, talab
  33. Und erzählten mit Bangen und Zagen
  34. Von alter verschollener Menschenzeit,
  35. Von Krankheit und Sterben, von Zank und Streit
  36. Einander die schaurigen Sagen.
  37. Sie stifteten einen Sühnealtar,
  38. Drauf brachten die Priester die Messe dar
  39. Beim Klange der Trauerlieder.
  40. Ein Requiem aeternam lallt ihr Mund,
  41. Weihwasser sprengten sie auf den Grund
  42. Und flehten den Segen hernieder.
  43. Der Segen, der schwebte wohl über die Welt,
  44. Das Weihwasser rann übers Ackerfeld –
  45. Doch sieh! was will das bedeuten?
  46. Der Segen flog ängstlich im Kreis herum,
  47. Das Weihwasser wälzte sich um und um –
  48. Sagt an, was soll das bedeuten?
  49. Da sprach das Weihwasser: „Ich sehe, ich seh
  50. Auf Erden kein Plätzchen, wohin ich auch späh,
  51. Das nie eine Träne benetzt hat.“
  52. Und der Segen, der sprach: „Ich suche, ich such
  53. Einen Fleck, einen kleinen, den nicht der Fluch,
  54. Den nicht der Mord schon besetzt hat.“
Die tote Erde von Carl Spitteler wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/spitteler/die-tote-erde/