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- Sie saßen sich genüber bang
- Und sahen sich an in Schmerzen;
- Oh, lägen sie in tiefster Gruft
- Und lägen Herz an Herzen! –
- Sie sprach: »Daß wir beisammen sind,
- Mein Bruder, will nicht taugen!«
- Er sah ihr in die Augen tief:
- »O süße Schwesteraugen!«
- Sie faßte flehend seine Hand
- Und rief: »O denk der Sünde!«
- Er sprach: »O süßes Schwesterblut,
- Was läufst du so geschwinde!«
- Er zog die schmalen Fingerlein
- An seinen Mund zur Stelle;
- Sie rief: «Oh, hilf mir, Herre Christ,
- Er zieht mich nach der Hölle!«
- Der Bruder hielt ihr zu den Mund;
- Er rief nach seinen Knappen.
- Nun rüsteten sie Reisezeug,
- Nun zäumten sie die Rappen.
- Er sprach: »Daß ich dein Bruder sei,
- Nicht länger will ich’s tragen;
- Nicht länger will ich drum im Grab
- Vater und Mutter verklagen.
- Zu lösen vermag der Papst Urban,
- Er mag uns lösen und binden!
- Und säß er an Sankt Peters Hand,
- Den Brautring muß ich finden.«
- Er ritt dahin; die Träne rann
- Von ihrem Angesichte;
- Der Stuhl, wo er gesessen, stand
- Im Abendsonnenlichte.
- Sie stieg hinab durch Hof und Hall‘
- Zu der Kapelle Stufen:
- »Weh mir, ich hör im Grabe tief
- Vater und Mutter rufen!«
- Sie stieg hinauf ins Kämmerlein;
- Das stand in Dämmernissen.
- Ach, nächtens schlug die Nachtigall;
- Da saß sie wach im Kissen.
- Da fuhr ihr Herz dem Liebsten nach
- Allüberall auf Erden;
- Sie streckte weit die Arme aus:
- »Unselig muß ich werden!«
- Schon war mit seinem Rosenkranz
- Der Sommer fortgezogen;
- Es hatte sich die Nachtigall
- In weiter Welt verflogen.
- Im Erker saß ein blasses Weib
- Und schaute auf die Fliesen;
- So stille war’s: kein Tritt erscholl,
- Kein Hornruf über die Wiesen.
- Der Abendschein alleine ging
- Vergoldend durch die Halle;
- Da öffneten die Tore sich
- Geräuschlos, ohne Schalle.
- Da stand an seiner Schwelle Rand
- Ein Mann in Harm gebrochen;
- Der sah sie toten Auges an,
- Kein Wort hat er gesprochen.
- Es lag auf ihren Lidern schwer,
- Sie schlug sie auf mit Mühen;
- Sie sprang empor, sie schrie so laut,
- Wie noch kein Herz geschrieen.
- Doch als er sprach: »Es reicht kein Ring
- Um Schwester- und Bruderhände!«
- Um stürzte sie den Marmortisch
- Und schritt an Saales Ende.
- Sie warf in seine Arme sich;
- Doch war sie bleich zum Sterben.
- Er sprach: »So ist die Stunde da,
- Daß beide wir verderben.«
- Die Schwester von dem Nacken sein
- Löste die zarten Hände:
- »Wir wollen zu Vater und Mutter gehn;
- Da hat das Leid ein Ende.«
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