Ballade vom kleinen Mann

eine Ballade von Josef Weinheber
  1. Wie jeden Tag durch die zwanzig Jahr,
  2. die er dient in seinem Büro,
  3. steht er auf, streicht mit den Fingern durchs Haar,
  4. wärmt Kaffee sich auf dem Rechaud,
  5. wäscht Händ und Gesicht, fährt rasch in den Rock,
  6. (nur im Amt nicht unpünktlich sein!)
  7. streicht sich sein Brot, nimmt Hut und Stock
  8. und läßt sein Zimmer allein.
  9. Um die Groschen für die Straßenbahn
  10. krampft er wichtig die Hand,
  11. eh er hält beim Tor einen Augenblick an,
  12. um zu schaun nach dem Wetterstand,
  13. geht ein wenig müd, denn er schläft nicht gut,
  14. bis zur Straßenbahn die paar Schritt;
  15. mit Gesichtern, ihm vertraut wie sein Hut,
  16. fährt er verdrossen mit.
  17. Vor dem Amtshaus zupft er an Kragen und Rock,
  18. verhält sich, ein weniges nur,
  19. und vor seinem Schreibtisch im dritten Stock
  20. sitzt er punkt acht Uhr.
  21. Er nimmt seine lausigen Akten vor,
  22. schreibt „zufolge“ und „auftragsgemäß“,
  23. macht Pause punkt zehn, und die Feder am Ohr,
  24. ißt er sein Brot indes.
  25. Dann schreibt er wieder „indem“ und „hieraus“,
  26. bis Zeit ist zum Mittagstisch.
  27. Die Gemeinschaftsküche ist gleich im Haus,
  28. und es stinkt nach Rüben und Fisch –
  29. Er würgt am Schreibtisch den Fraß wie ein Mann,
  30. der Zuhause Besseres hat.
  31. Dann raucht er sich eine Pfeife an
  32. und gibt der Verdauung statt.
  33. Er leiht sich dazu eine Zeitung aus
  34. vom nächsten Kollegen und liest,
  35. daß eine Dame aus gräflichem Haus
  36. eines Knaben genesen ist.
  37. Dann schreibt er von neuem „mithin“ und „anbei“,
  38. ganz pflicht- und schweigenumweht,
  39. und endlich ist es auch heute drei,
  40. und er nimmt seinen Hut und geht.
  41. Die Sonne scheint blank, also fährt er nicht
  42. wie sonst auf der Straßenbahn.
  43. Er schlendert langsam, mit stillem Gesicht,
  44. sieht sich die Schaufenster an,
  45. weicht ängstlich einem Betrunkenen aus
  46. und staunt nur: Gibt es das auch?
  47. Schaut ihm kopfschüttelnd nach, bis ans letzte Haus,
  48. und spürt den Fuselhauch.
  49. Er sieht den Mädchen scheu nach der Brust
  50. und denkt: Ist nichts für mich.
  51. Lang ist die Ehe und teuer die Lust..
  52. und spuckt und räuspert sich.
  53. Jetzt kommt der Uhrmacherladen am Eck.
  54. Hier verweilt er, wie manchen Tag.
  55. Und verschlingt mit dem Blick „seinen“ Ring, der am Fleck
  56. liegt, wo er immer lag.
  57. Er geht durch den Park, und die Lindenblüh
  58. duftet süß und schwül.
  59. Ein heller Tag aus der Kindheit früh
  60. steht auf einmal vor seinem Gefühl.
  61. Es zerstiebt gleich wieder. Er denkt der Schuld,
  62. die noch beim Schneider steht,
  63. wischt sich den Schweiß mit Ungeduld,
  64. schiebt den Hut ins Genick und geht.
  65. Zuhause empfangen die Wände ihn,
  66. wie er sie morgens verließ.
  67. Er muß die Kissen frisch überziehn,
  68. lüften, und jenes und dies.
  69. Der Staubwedel rührt mit leichtem Schwung
  70. an die Lautensaiten; der Klang
  71. weckt halb verwehte Erinnerung
  72. an die Zeit, wo er jung war und sang.
  73. Du mein Gott, die Jugendeseleien,
  74. die waren gründlich vorbei..
  75. Schnell holt er Eier und Wurstzeug ein
  76. und brät sich „Schinken mit Ei“.
  77. Er ißt aus der Pfanne (wer sieht es denn!)
  78. lang, schwelgend und ohne Gier
  79. und putzt nachher das Geschirr wieder schön
  80. mit vielem Zeitungspapier.
  81. Dann streicht er sich mehrmals über den Bauch,
  82. sein Leiblied kommt ihm zu Sinn:
  83. „Ja die alten Deutschen tranken ja auch – „
  84. und er brummt so halb vor sich hin,
  85. zieht die Uhr und schaut eine Zeit an die Wand,
  86. denn die Zeit läuft schrecklich leer,
  87. wenn kein Ding und Tun die Minute bannt
  88. und kein Mensch ist um einen her –
  89. und räkelt sich und zählt zweimal sein Geld:
  90. Der Stammtisch wartet schon.
  91. Dort ist das Leben, dort ist die Welt,
  92. dort verebbt der Tag und die Fron.
  93. Er genießt seine üblichen drei Achtel Wein
  94. wie ein Bürger: gehalten, adrett.
  95. Und fällt mit einem Seufzer klein
  96. punkt zehn in sein einsames Bett.
Ballade vom kleinen Mann von Josef Weinheber wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/weinheber/ballade-vom-kleinen-mann/