Jesus und der Äser-Weg

eine Ballade von Franz Werfel
  1. Und als wir gingen von dem toten Hund,
  2. Von dessen Zähnen mild der Herr gesprochen,
  3. Entführte er uns diesem Meeres-Sund
  4. Den Berg empor, auf dem wir keuchend krochen.
  5. Und wie der Herr zuerst den Gipfel trat,
  6. Und wir schon standen auf den letzten Sprossen,
  7. Verwies er uns zu Füßen Pfad an Pfad,
  8. Und Wege, die im Sturm zur Fläche schössen.
  9. Doch einer war, den jeder sanft erfand,
  10. Und leiser jeder sah zu Tale fließen.
  11. Und wie der Heiland süß sich umgewandt,
  12. Da riefen wir und schrieen: Wähle diesen!
  13. Er neigte nur das Haupt und ging voran,
  14. Indes wir uns verzückten, daß wir lebten,
  15. Von Luft berührt, die Grün in Grün zerrann,
  16. Von Öl und Mandel, die vorüberschwebten.
  17. Doch plötzlich bäumte sich vor unserem Lauf
  18. Zerfreßne Mauer und ein Tor inmitten.
  19. Der Heiland stieß die dunkle Pforte auf,
  20. Und wartete bis wir hindurchgeschritten.
  21. Und da geschah, was uns die Augen schloß,
  22. Was uns wie Stämme auf die Stelle pflanzte,
  23. Denn greulich vor uns, wildverschlungen floß
  24. Ein Strom von Aas, auf dem die Sonne tanzte.
  25. Verbissene Ratten schwammen im Gezücht
  26. Von Schlangen, halb von Schärfe aufgefressen,
  27. Verweste Reh‘ und Esel und ein Licht
  28. Von Pest und Fliegen drüber unermessen.
  29. Ein schweflig Stinken und so ohne Maß
  30. Aufbrodelte aus den verruchten Lachen,
  31. Daß wir uns beugten übers gelbe Gras
  32. Und uns vor uferloser Angst erbrachen.
  33. Der Heiland aber hob sich auf und schrie
  34. Und schrie zum Himmel, rasend ohne Ende:
  35. »Mein Gott und Vater, höre mich und wende
  36. Dies Grauen von mir und begnade die!
  37. Ich nannt‘ mich Liebe und nun packt mich auch
  38. Dies Würgen vor dem scheußlichsten Gesetze.
  39. Ach, ich bin eitler als die kleinste Metze
  40. Und schnöder bin ich als der letzte Gauch!
  41. Mein Vater du, so du mein Vater bist,
  42. Laß mich doch lieben dies verweste Wesen,
  43. Laß mich im Aase dein Erbarmen lesen!
  44. Ist das denn Liebe, wo noch Ekel ist?!«
  45. Und siehe! Plötzlich brauste sein Gesicht
  46. Von jenen Jagden, die wir alle kannten,
  47. Und daß wir uns geblendet seitwärts wandten,
  48. Verfing sich seinem Scheitel Licht um Licht!
  49. Er neigte wild sich nieder und vergrub
  50. Die Hände ins verderbliche Geziefer,
  51. Und ach, von Rosen ein Geruch, ein tiefer,
  52. Von seiner Weiße sich erhub.
  53. Er aber füllte seine Haare aus
  54. Mit kleinem Aas und kränzte sich mit Schleichen,
  55. Aus seinem Gürtel hingen hundert Leichen,
  56. Von seiner Schulter Ratt‘ und Fledermaus.
  57. Und wie er so im dunkeln Tage stand,
  58. Brachen die Berge auf und Löwen weinten
  59. An seinem Knie, und die zum Flug vereinten
  60. Wildgänse brausten nieder unverwandt.
  61. Vier dunkle Sonnen tanzten lind,
  62. Ein breiter Strahl war da, der nicht versiegte.
  63. Der Himmel barst. – Und Gottes Taube wiegte
  64. Begeistert sich im blauen Riesen-Wind.
Jesus und der Äser-Weg von Franz Werfel wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/werfel/jesus-und-der-aeser-weg/