Die Männer im Zobtenberge

eine Ballade von Adelbert von Chamisso
  1. Es wird vom Zobtenberge gar Seltsames erzählt;
  2. Als tausend und fünfhundert und siebzig man gezählt,
  3. Am Sonntag Quasimodo lustwandelte hinan
  4. Johannes Beer aus Schweidnitz, ein schlichter frommer Mann.
  5. Er war des Berges kundig, und Schlucht und Felsenwand
  6. Und jeder Stein am Stege vollkommen ihm bekannt;
  7. Wo in gedrängtem Kreise die nackten Felsen stehn,
  8. War diesmal eine Höhle, wo keine sonst zu sehn.
  9. Er nahte sich verwundert dem unbekannten Schlund,
  10. Es hauchte kalt und schaurig ihn an aus seinem Grund;
  11. Er wollte zaghaft fliehen, doch bannt‘ ihn fort und fort
  12. Ein lüsternes Entsetzen an nicht geheuren Ort.
  13. Er faßte sich ein Herze, er stieg hinein und drang
  14. Durch enge Felsenspalten in einen langen Gang;
  15. Ihn lockte tief da unten ein schwacher Dämmerschein,
  16. Den warf in ehrner Pforte ein kleines Fensterlein.
  17. Die Pforte war verschlossen, zu welcher er nun kam,
  18. Er klopfte, von der Wölbung erdröhnt‘ es wundersam,
  19. Er klopfte noch zum andern, zum dritten Mal noch an,
  20. Da ward von Geisterhänden unsichtbar aufgetan.
  21. An rundem Tische saßen im schwarzbehangnem Saal,
  22. Erhellt von einer Ampel unsicher bleichem Strahl,
  23. Drei lange hagre Männer; betrübt und zitternd sahn
  24. Ein Pergament vor ihnen sie stieren Blickes an.
  25. Er zögernd auf der Schwelle beschaute sie genau, –
  26. Die Tracht so altertümlich, das Haar so lang und grau, –
  27. Er rief mit frommem Gruße: »Vobiscum Christi pax!«
  28. Sie seufzten leise wimmernd: »Hic nulla, nulla pax!«
  29. Er trat nun von der Schwelle nur wen’ge Schritte vor,
  30. Vom Pergamente blickten die Männer nicht empor,
  31. Er grüßte sie zum andern: »Vobiscum Christi pax!«
  32. Sie lallten zähneklappernd: »Hic nulla, nulla pax!«
  33. Er trat nun vor den Tisch hin, und grüßte wiederum:
  34. »Pax Christi sit vobiscum!« sie aber blieben stumm,
  35. Erzitterten, und legten das Pergament ihm dar:
  36. »Hic liber obedientiae« darauf zu lesen war.
  37. Da fragt‘ er: wer sie wären? – Sie wüßten’s selber nicht.
  38. Er fragte: was sie machten? – Das endliche Gericht
  39. Erharrten sie mit Schrecken, und jenen jüngsten Tag,
  40. Wo jedem seiner Werke Vergeltung werden mag.
  41. Er fragte: wie sie hätten verbracht die Zeitlichkeit?
  42. Was ihre Werke waren? Ein Vorhang wallte breit
  43. Den Männern gegenüber und bildete die Wand,
  44. Sie bebten, schwiegen, zeigten darauf mit Blick und Hand.
  45. Dahin gewendet hob er den Vorhang schaudernd auf:
  46. Geripp und Schädel lagen gespeichert da zu Hauf;
  47. Vergebens war’s mit Purpur und Hermelin verdeckt,
  48. Drei Schwerter lagen drüber, die Klingen blutbefleckt.
  49. Drauf er: ob zu den Werken sie sich bekennten? – Ja.
  50. Ob solche gute waren, ob böse? – Böse, ja.
  51. Ob leid sie ihnen wären? Sie senkten das Gesicht,
  52. Erschraken und verstummten: sie wüßten’s selber nicht.
Die Männer im Zobtenberge von Adelbert von Chamisso wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/chamisso/die-maenner-im-zobtenberge/