Der Götter Irrfahrt

eine Ballade von Joseph von Eichendorff

(Nach einer Volkssage der Tonga-Inseln)
1

  1. Unten endlos nichts als Wasser,
  2. Droben Himmel still und weit,
  3. Nur das Götterland, das blasse,
  4. Lag in Meereseinsamkeit,
  5. Wo auf farbenlosen Matten
  6. Gipfel wie in Träumen stehn,
  7. Und Gestalten ohne Schatten
  8. Ewig lautlos sich ergehn.
  9. Zwischen grauen Wolkenschweifen,
  10. Die verschlafen Berg und Flut
  11. Mit den langen Schleiern streifen,
  12. Hoch der Göttervater ruht.
  13. Heut zu fischen ihn gelüstet,
  14. Und vom zack’gen Felsenhang
  15. In des Meeres grüne Wüste
  16. Senket er die Schnur zum Fang.
  17. Sinnend sitzt er, und es flattern
  18. Bart und Haar im Sturme weit,
  19. Und die Zeit wird ihm so lange
  20. In der stillen Ewigkeit.
  21. Da fühlt er die Angel zucken:
  22. „Ei, das ist ein schwerer Fisch!“
  23. Freudig fängt er an zu rucken,
  24. Stemmt sich, zieht und windet frisch.
  25. Sieh, da hebt er Felsenspitzen
  26. Langsam aus der Wasser Grund,
  27. Und erschrocken aus den Ritzen
  28. Schießen schupp’ge Schlangen bunt;
  29. Ringelnd‘ Ungetüm‘ der Tiefen,
  30. Die im öden Wogenhaus
  31. In der grünen Dämmrung schliefen,
  32. Stürzen sich ins Meer hinaus.
  33. Doch der Vater hebt aufs neue
  34. Und Gebirge, Tal und Strand
  35. Taucht allmählich auf ins Freie;
  36. Und es grünt das junge Land,
  37. Irrend farb’ge Lichter schweifen
  38. Und von Blumen glänzt die Flur,
  39. Wo des Vaters Blick‘ sie streifen —
  40. Da zerreißt die Angelschnur.
  41. Wie ’ne liebliche Sirene
  42. Halb nun überm Wellenglanz,
  43. Staunend ob der eignen Schöne,
  44. Schwebt es mit dem Blütenkranz,
  45. Bei der Lüfte lindem Fächeln
  46. Sich im Meer, das rosig brennt,
  47. Spiegelnd mit verschämtem Lächeln —
  48. Erde sie der Vater nennt.
  49. 2

  50. Staunend auf den Göttersitzen
  51. Die Unsterblichen nun stehn,
  52. Sehn den Morgen drüben blitzen,
  53. Fühlen Duft herüberwehn,
  54. Und so süßes Weh sie spüren,
  55. Lösen leis ihr Schiff vom Strand,
  56. Und die Lüfte sie verführen
  57. Fern durchs Meer zum jungen Land.
  58. O wie da die Quellen sprangen
  59. In die tiefe Blütenpracht
  60. Und Lianen dort sich schlangen
  61. Glühend durch die Waldesnacht!
  62. Und die Wandrer trunken lauschen,
  63. Wo die Wasserfälle gehn,
  64. Bis sie in dem Frühlingsrauschen
  65. Plötzlich all erschrocken stehn:
  66. Denn sie sehn zum ersten Male
  67. Nun die Sonne niedergehn
  68. Und verwundert Berg‘ und Tale
  69. Tief im Abendrote stehn,
  70. Und der schönste Gott von allen
  71. Sank erbleichend in den Duft,
  72. Denn dem Tode ist verfallen,
  73. Wer geatmet ird’sche Luft.
  74. Die Genossen faßt ein Grauen,
  75. Und sie fahren weit ins Meer,
  76. Nach des Vaters Haus sie schauen,
  77. Doch sie finden’s nimmermehr.
  78. Mußten aus den Wogenwüsten
  79. Ihrer Schiffe Schnäbel drehn
  80. Wieder nach des Eilands Küsten,
  81. Ach, das war so falsch und schön!
  82. Und für immer da verschlagen
  83. Blieben sie im fremden Land,
  84. Hörten nachts des Vaters Klagen
  85. Oft noch fern vom Götterstrand. —
  86. Und nun Kindeskinder müssen
  87. Nach der Heimat sehn ins Meer,
  88. Und es kommt im Wind ein Grüßen,
  89. Und sie wissen nicht woher.
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Quelle: https://balladen.net/eichendorff/der-goetter-irrfahrt/