Die stille Gemeinde

eine Ballade von Joseph von Eichendorff
  1. Von Bretagnes Hügeln, die das Meer
  2. Blühend hell umsäumen,
  3. Schaute ein Kirchlein trostreich her
  4. Zwischen uralten Bäumen.
  5. Das Kornfeld und die Wälder weit
  6. Rauschten im Sonntagsglanze,
  7. Doch keine Glocken klangen heut
  8. Vom grünen Felsenkranze.
  9. Denn auf des Kirchhofs schattigem Grund
  10. Die Jakobiner saßen,
  11. Ihre Pferde alle Blumen bunt
  12. Von den Grabeshügeln fraßen.
  13. Sie hatten am Kreuz auf stiller Höh
  14. Feldflasch und Säbel hangen,
  15. Derweil sie, statt des Kyrie,
  16. Die Marseillaise sangen.
  17. Ihr Hauptmann aber lehnt‘ am Baum,
  18. Todmüde von schweren Wunden,
  19. Und schaute wie im Fiebertraum
  20. Nach dem tiefschwülen Grunde.
  21. Er sprach verwirrt: »Da drüben stand
  22. Des Vaters Schloß am Weiher,
  23. Ich selbst steckt’s an; das war ein Brand,
  24. Der Freiheit Freudenfeuer!
  25. Ich seh ihn noch: Wie durch den Sturm
  26. Zwischen den feurgen Zungen
  27. Mein stolzer Vater da vom Turm
  28. Sein Banner hat geschwungen.
  29. Und als es war entlaubt vom Brand,
  30. Die Fahn im Wind zerflogen:
  31. Den Schaft als Kreuz nun in der Hand
  32. Teilt‘ er die Flammenwogen.
  33. Er sah so wunderbar auf mich,
  34. Ich konnt ihn nicht ermorden –
  35. Da sank die Burg, er wandte sich
  36. Und ist ein Pfaff geworden.
  37. Seitdem hör ich in Träumen schwer
  38. Von ferne Glocken gehen
  39. Und seh in rotem Feuermeer
  40. Ein Kreuz allnächtlich stehen.
  41. Es sollen keine Glocken gehn,
  42. Die Nächte zu verstören,
  43. Kein Kreuz soll mehr auf Erden stehn,
  44. Um Narren zu betören!
  45. Und dieses Kirchlein hier bewacht,
  46. Sie sollen nicht Messe singen,
  47. Wir reißen’s nieder über Nacht,
  48. Licht sei, wohin wir dringen!« –
  49. Und als die Nacht schritt leis daher,
  50. Der Hauptmann stand am Strande,
  51. So still im Wald, so still das Meer,
  52. Nur die Wachen riefen im Lande.
  53. Im Wind die Glock von selbst anschlug,
  54. Da wollt ein Hauch sich heben,
  55. Wie unsichtbarer Engel Flug,
  56. Die übers Wasser schweben.
  57. Nun sieht er auch im Meere fern
  58. Ein Lichtlein hell entglommen;
  59. Er dacht, wie ist der schöne Stern
  60. Dort in die Flut gekommen?
  61. Am Ufer aber durch die Nacht
  62. In allen Felsenspalten
  63. Regt sich’s und schlüpft es leis und sacht,
  64. Viel dunkle, schwanke Gestalten.
  65. Nur manchmal von den Buchten her
  66. Schallt Ruderschlag von weitem,
  67. Auf Barken lautlos in das Meer
  68. Sie nach dem Stern hin gleiten.
  69. Der wächst und breitet sich im Nahn
  70. Und streift mit Glanz die Wellen,
  71. Es ist ein kleiner Fischerkahn,
  72. Den Fackeln mild erhellen.
  73. Und einsam auf des Schiffleins Rand
  74. Ein Greis kommt hergezogen
  75. In wunderbarem Meßgewand
  76. Als wie der Hirt der Wogen.
  77. Die Barken eine weite Rund
  78. Dort um den Hirten machen,
  79. Der laut nun überm Meeresgrund
  80. Den Segen spricht im Nachen.
  81. Da schwieg der Wind und rauscht‘ das Meer
  82. So wunderbare Weise,
  83. Und auf den Knien lag ringsher
  84. Die stille Gemeinde im Kreise.
  85. Und als er das Kreuz hob in die Luft,
  86. Hoch zwischen die Fackeln trat er –
  87. Den Hauptmann schauert im Herzensgrund,
  88. Es war sein alter Vater.
  89. Da taumelt‘ er und sank ins Gras
  90. Betend im stillen Grunde,
  91. Und wie Felsenquellen im Frühling brach
  92. Sein Herzblut aus allen Wunden.
  93. Und als die Gesellen kommen zum Strand,
  94. Einen toten Mann sie finden –
  95. Voll Graun sie sprengen fort durchs Land,
  96. Als jagt‘ sie der Tod in den Winden.
  97. Die stürzten sich in den Krieg so weit,
  98. Sie sind verweht und zerstoben,
  99. Das Kirchlein aber steht noch heut
  100. Unter den Linden droben.
Die stille Gemeinde von Joseph von Eichendorff wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/eichendorff/die-stille-gemeinde/