Die verlorene Braut

eine Ballade von Joseph von Eichendorff
  1. Vater und Kind gestorben
  2. Ruhten im Grabe tief,
  3. Die Mutter hatt erworben
  4. Seitdem ein ander Lieb.
  5. Da droben auf dem Schlosse
  6. Da schallt das Hochzeitsfest,
  7. Da lacht’s und wiehern Rosse,
  8. Durchs Grün ziehn bunte Gäst.
  9. Die Braut schaut‘ ins Gefilde
  10. Noch einmal vom Altan,
  11. Es sah so ernst und milde
  12. Sie da der Abend an.
  13. Rings waren schon verdunkelt
  14. Die Täler und der Rhein,
  15. In ihrem Brautschmuck funkelt
  16. Nur noch der Abendschein.
  17. Sie hörte Glocken gehen
  18. Im weiten, tiefen Tal,
  19. Es bracht der Lüfte Wehen
  20. Fern übern Wald den Schall.
  21. Sie dacht: „O falscher Abend!
  22. Wen das bedeuten mag?
  23. Wen läuten sie zu Grabe
  24. An meinem Hochzeitstag?“
  25. Sie hört‘ im Garten rauschen
  26. Die Brunnen immerdar,
  27. Und durch der Wälder Rauschen
  28. Ein Singen wunderbar.
  29. Sie sprach: „Wie wirres Klingen
  30. Kommt durch die Einsamkeit
  31. Das Lied wohl hört ich singen
  32. In alter, schöner Zeit.“
  33. Es klang, als wollt sie’s rufen
  34. Und grüßen tausendmal —
  35. So stieg sie von den Stufen,
  36. So kühle rauscht‘ das Tal.
  37. So zwischen Weingehängen,
  38. Stieg sinnend sie ins Land
  39. Hinunter zu den Klängen,
  40. Bis sie im Walde stand.
  41. Dort ging sie, wie in Träumen,
  42. Im weiten, stillen Rund,
  43. Das Lied klang in den Bäumen,
  44. Von Quellen rauscht‘ der Grund. —
  45. Derweil von Mund zu Munde
  46. Durchs Haus, erst heimlich sacht,
  47. Und lauter geht die Kunde:
  48. Die Braut irrt in der Nacht!
  49. Der Bräut’gam tät erbleichen,
  50. Er hört im Tal das Lied,
  51. Ein dunkelrotes Zeichen
  52. Ihm von der Stirne glüht.
  53. Und Tanz und Jubel enden
  54. Er und die Gäst im Saal,
  55. Windlichter in den Händen,
  56. Sich stürzen in das Tal.
  57. Da schweifen rote Scheine,
  58. Schall nun und Rosseshuf,
  59. Es hallen die Gesteine
  60. Rings von verworrnem Ruf.
  61. Doch einsam irrt die Fraue
  62. Im Walde schön und bleich,
  63. Die Nacht hat tiefes Grauen,
  64. Das ist von Sternen so reich.
  65. Und als sie war gelanget
  66. Zum allerstillsten Grund,
  67. Ein Kind am Felsenhange
  68. Dort freundlich lächelnd stund.
  69. Das trug in seinen Locken
  70. Einen weißen Rosenkranz,
  71. Sie schaut‘ es an erschrocken
  72. Beim irren Mondesglanz.
  73. „Solch Augen hat das meine,
  74. Ach meines bist du nicht,
  75. Das ruht ja unterm Steine,
  76. Den niemand mehr zerbricht.
  77. Ich weiß nicht, was mir grauset,
  78. Blick nicht so fremd auf mich!
  79. Ich wollt, ich wär zu Hause.“ —
  80. „Nach Hause führ ich dich.“
  81. Sie gehn nun miteinander,
  82. So trübe weht der Wind,
  83. Die Fraue sprach im Wandern:
  84. „Ich weiß nicht, wo wir sind.
  85. Wen tragen sie beim Scheine
  86. Der Fackeln durch die Schluft?
  87. O Gott, der stürzt‘ vom Steine
  88. Sich tot in dieser Kluft!“
  89. Das Kind sagt: „Den sie tragen,
  90. Dein Bräut’gam heute war,
  91. Er hat meinen Vater erschlagen,
  92. ’s ist diese Stund ein Jahr.
  93. Wir alle müssen’s büßen,
  94. Bald wird es besser sein,
  95. Der Vater läßt dich grüßen,
  96. Mein liebes Mütterlein.“
  97. „Ihr schauert’s durch die Glieder:
  98. Du bist mein totes Kind!
  99. Wie funkeln die Sterne nieder,
  100. Jetzt weiß ich, wo wir sind.“ —
  101. Da löst‘ sie Kranz und Spangen,
  102. Und über ihr Angesicht
  103. Perlen und Tränen rannen,
  104. Man unterschied sie nicht.
  105. Und über die Schultern nieder
  106. Rollten die Locken sacht,
  107. Verdunkelnd Augen und Glieder,
  108. Wie eine prächtige Nacht.
  109. Ums Kind den Arm geschlagen,
  110. Sank sie ins Gras hinein —
  111. Dort hatten sie erschlagen
  112. Den Vater im Gestein.
  113. Die Hochzeitsgäste riefen
  114. Im Walde auf und ab,
  115. Die Gründe alle schliefen,
  116. Nur Echo Antwort gab.
  117. Und als sich leis erhoben
  118. Der erste Morgenduft,
  119. Hörten die Hirten droben
  120. Ein Singen in stiller Luft.
Die verlorene Braut von Joseph von Eichendorff wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/eichendorff/die-verlorene-braut/