Das Trauerspiel von Afghanistan

eine Ballade von Theodor Fontane
  1. Der Schnee leis stäubend vom Himmel fällt,
  2. Ein Reiter vor Dschellalabad hält,
  3. „Wer da!“ – „„Ein britischer Reitersmann,
  4. Bringe Botschaft aus Afghanistan.““
  5. Afghanistan! er sprach es so matt;
  6. Es umdrängt den Reiter die halbe Stadt,
  7. Sir Robert Sale, der Commandant,
  8. Hebt ihn vom Rosse mit eigener Hand.
  9. Sie führen in’s steinerne Wachthaus ihn,
  10. Sie setzen ihn nieder an den Kamin,
  11. Wie wärmt ihn das Feuer, wie labt ihn das Licht,
  12. Er athmet hoch auf und dankt und spricht:
  13. „Wir waren dreizehntausend Mann,
  14. Von Cabul unser Zug begann,
  15. Soldaten, Führer, Weib und Kind,
  16. Erstarrt, erschlagen, verrathen sind.
  17. „Zersprengt ist unser ganzes Heer,
  18. Was lebt, irrt draußen in Nacht umher,
  19. Mir hat ein Gott die Rettung gegönnt,
  20. Seht zu, ob den Rest ihr retten könnt.“
  21. Sir Robert stieg auf den Festungswall,
  22. Offiziere, Soldaten folgten ihm all’,
  23. Sir Robert sprach: „Der Schnee fällt dicht,
  24. Die uns suchen, sie können uns finden nicht.
  25. „Sie irren wie Blinde und sind uns so nah,
  26. So laßt sie’s hören, daß wir da,
  27. Stimmt an ein Lied von Heimath und Haus,
  28. Trompeter, blas’t in die Nacht hinaus!“
  29. Da huben sie an und sie wurden’s nicht müd’,
  30. Durch die Nacht hin klang es Lied um Lied,
  31. Erst englische Lieder mit fröhlichem Klang,
  32. Dann Hochlandslieder wie Klagegesang.
  33. Sie bliesen die Nacht und über den Tag,
  34. Laut, wie nur die Liebe rufen mag,
  35. Sie bliesen – es kam die zweite Nacht,
  36. Umsonst, daß ihr ruft, umsonst, daß ihr wacht.
  37. Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
  38. Vernichtet ist das ganze Heer,
  39. Mit dreizehntausend der Zug begann,
  40. Einer kam heim aus Afghanistan.

Hintergrund

In der Ballade Das Trauerspiel von Afghanistan, die 1858 entstand, setzt sich Theodor Fontane mit der katastrophalen Niederlage Englands im ersten anglo-afghanischen Krieg im Januar 1842 auseinander, die an ein Massaker grenzte.

Fontane war zu dieser Zeit Auslandskorrespondent in London und dort für den preußischen Staat zuständig. Hier war die desaströse Niederlage der Briten in Afghanistan natürlich omnipräsent und für Fontane erleb- sowie spürbar.

Diese Niederlage ist der traurige Höhepunkt eines langen Konfliktes. Die Briten marschierten 1838 in Afghanistan ein und erreichten im Juli 1839 die Hauptstadt Kabul, die sie am 7. August kampflos einnehmen konnten. Ursächlich für diesen Krieg war vor allem das Interesse Englands, die russischen Bestrebungen, einen eisfreien Hafen am Indischen Ozean zu errichten, zunichte zu machen, da hierfür ein russischer Verbindungsweg durch Afghanistan notwendig gewesen wäre.

Die britische Besatzung führte allerdings zu fortlaufenden Konflikten mit den Afghanen, weshalb sich England mehr und mehr aus Afghanistan zurückzog sowie die Beziehungen zu wichtigen Stammesfürsten vernachlässigte, die wiederum den Engländern weniger Unterstützung zukommen ließen.

Aufgrund einer Revolte beschloss der britische Befehlshaber General William George Keith Elphinstone den endgültigen Rückzug aus Kabul, weshalb am 6. Januar 1842 in etwa 15.000 Menschen, unter ihnen vor allem Zivilisten, unter Zusicherung von freiem Abzug und einer afghanischen Eskorte, gen Dschalalabad aufbrachen.

Auf dem Rückzug wurden sie von den Afghanen unter Akbar Khan verfolgt. Die versprochene afghanische Eskorte, die die Briten vor solchen Racheakten schützen sollte, erschien nicht. Die Briten wurden dezimiert, zerstreut und hingerichtet. Überliefert ist, dass lediglich ein britischer Militärarzt Dschalalabad erreichte.

Fontane, der in dieser Ballade aus der Sichter der Besatzer in Dschalalabad erzählt, bewertet dieses Massaker nicht, sondern lässt den Boten das Gesehene schildern. Lediglich im Titel der Ballade gibt es einen wertenden Fingerzeig, da von einem Trauerspiel gesprochen wird, das sich übigens mit der zweiten Eroberung der Briten in den folgenden Monaten und Jahren fortsetzen sollte.
Das Trauerspiel von Afghanistan von Theodor Fontane wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/fontane/das-trauerspiel-von-afghanistan/