Der Scheik am Sinai

eine Ballade von Ferdinand Freiligrath
  1. „Tragt mich vor’s Zelt hinaus sammt meiner Ottomane!
  2. Ich will ihn selber sehn! – Heut‘ kam die Karavane
  3. Aus Afrika, sagt ihr, und mit ihr das Gerücht?
  4. Tragt mich vor’s Zelt hinaus! wie an den Wasserbächen
  5. Sich die Gazelle letzt, will ich an seinem Sprechen
  6. Mich letzen, wenn er Wahrheit spricht.“
  7. Der Scheik saß vor dem Zelt, und also sprach der Mohre:
  8. „“Auf Algiers Thürmen weht, o Greis! die Tricolore,
  9. Auf seinen Zinnen rauscht die Seide von Lyon;
  10. Durch seine Gassen dröhnt früh Morgens die Reveille,
  11. Das Roß geht nach dem Takt des Liedes von Marseille;
  12. Die Franken kamen von Toulon!
  13. Gen Süden rückt das Heer in blitzender Kolonne;
  14. Auf ihre Waffen flammt der Barbaresken Sonne,
  15. Tuneser Sand umweht der Pferde Mähnenhaar.
  16. Mit ihren Weibern fliehn die knirschenden Kabylen;
  17. Der Atlas nimmt sie auf, und mit dem Fuß voll Schwielen
  18. Klimmt durch’s Gebirg der Dromedar.
  19. Die Mauren stellen sich; vom Streit gleich einer Esse
  20. Glüht schwül das Defilé, Dampf wirbelt durch die Pässe;
  21. Der Leu verläßt den Rest des halbzerriss’nen Reh’s.
  22. Er muß sich für die Nacht ein ander Wild erjagen. –
  23. Allah! – Feu! En avant! – Keck bis zum Gipfel schlagen
  24. Sich durch die Aventuriers.
  25. Der Berg trägt eine Kron‘ von blanken Bajonetten;
  26. Zu ihren Füßen liegt das Land mit seinen Städten
  27. Vom Atlas bis an’s Meer, von Tunis bis nach Fez.
  28. Die Reiter sitzen ab; ihr Arm ruht auf den Croupen;
  29. Ihr Auge schweift umher; aus grünen Myrtengruppen
  30. Schau’n dünn und schlank die Minarets.
  31. Die Mandel blüht im Thal; mit spitzen dunkeln Blättern
  32. Trotzt auf dem kahlen Fels die Aloe den Wettern;
  33. Gesegnet ist das Land des Bey’s von Tittery.
  34. Dort glänzt das Meer; dorthin liegt Frankreich. Mit den bunten
  35. Kriegsfahnen buhlt der Wind. Am Zündloch glühn die Lunten;
  36. Die Salve kracht – so grüßen sie!““
  37. „Sie sind es!“ ruft der Scheik – „ich focht an ihrer Seite!
  38. O Pyramidenschlacht! o, Tag des Ruhms, der Beute!
  39. Roth, wie dein Turban, war im Nile jede Furt. –
  40. Allein ihr Sultan? sprich!“ er faßt des Mohren Rechte;
  41. „Sein Wuchs, sein Gang, sein Aug‘? sahst du ihn im Gefechte?
  42. Sein Kleid?“ – der Mohr greift in den Gurt.
  43. „“Ihr Sultan blieb daheim in seinen Burggemächern;
  44. Ein Feldherr trotzt für ihn den Kugeln und den Köchern;
  45. Ein Aga sprengt für ihn des Atlas Eisenthür.
  46. Doch ihres Sultans Haupt sieh’st du auf diesem blanken
  47. Goldstück von zwanzig Francs. Ein Reiter von den Franken
  48. Gab es beim Pferdehandel mir!“
  49. Der Emir nimmt das Gold, und blickt auf das Gepräge,
  50. Ob dies der Sultan sei, dem er die Wüstenwege
  51. Vor langen Jahren wies; allein er seufzt und spricht:
  52. „Das ist sein Auge nicht, das ist nicht seine Stirne!
  53. Den Mann hier kenn‘ ich nicht! sein Haupt gleicht einer Birne!
  54. Der, den ich meine, ist es nicht!“
Der Scheik am Sinai von Ferdinand Freiligrath wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/freiligrath/der-scheik-am-sinai/