Das alte Steinkreuz am Neuen Markt

eine Ballade von Detlev von Liliencron
  1. Berlin-Cölln war die Stadt genannt
  2. Und tat viel Lärm verbreiten,
  3. Da lebte mal ein Musikant,
  4. In sagenhaften Zeiten.
  5. Der rührte so sein Saitenspiel,
  6. Daß alles auf die Kniee fiel
  7. Vor lauter Seligkeiten.
  8. Doch leider hat der Musikant
  9. Zu viel Bourgogne genossen;
  10. Das schuf ihm manchen Höllenbrand,
  11. Warf ihn in manche Gossen.
  12. Ein greulich Laster trat hinzu:
  13. Er lästert Gott und Himmelsruh
  14. Mit seinen Teufelsglossen.
  15. Einst, als die Welt ihm schwankend schien,
  16. Er war halt stark im Trane,
  17. Stieg er den Turm von Sankt Marien
  18. Hinauf im Söffelwahne.
  19. Und auf der Plattform oben, quiek,
  20. Geigt er die weltlichste Musik
  21. Dem guten Kirchenhahne.
  22. Ach, das war wahrlich kein Choral,
  23. Das waren Tanz und Weisen,
  24. Und üppige Lieder, die dem Baal
  25. Gefallen und ihn preisen.
  26. Und schaudernd hört der Kikeriki
  27. Die grauenhafte Blasphemie
  28. Und möchte stracks verreisen.
  29. Die Bürger unten bleiben stehn
  30. Und traun kaum ihren Ohren,
  31. Begreifen nicht, wie konnt’s geschehn,
  32. Und murren und rumoren.
  33. Und jeder sieht schon, daß er fällt,
  34. Sich Schädel und Genick zerschellt,
  35. Und hält ihn für verloren.
  36. Gottvater hat es auch gehört,
  37. Und denkt: Mein Musikante,
  38. Du bist zwar sehr vom Wein betört
  39. Und torkelst an der Kante,
  40. Du bist ein liederliches Vieh,
  41. Doch bist und bleibst du ein Genie,
  42. Das ist das Amüsante.
  43. Drum gönn ich eine Lehre dir;
  44. Du wirst sie, hoff ich, nutzen!
  45. Das zweite Mal, mein Herr Pläsier,
  46. Darfst du nicht wieder trutzen!
  47. Nun paß mal auf: jetzt sag ich eins
  48. Und zwei und drei, und nochmal eins,
  49. Dann wird der Sand dich putzen.
  50. Und Purzel-Purzel-Purzelbaum,
  51. Kopf, Arm, Bein, ohne Pause,
  52. Wie Ikaros, durch Wind und Raum,
  53. Geht’s abwärts mit Gesause.
  54. Und schwapp, da liegt der Fiedelhans,
  55. Ist nüchtern wie ’ne Stoppelgans,
  56. Steht auf und – geht nach Hause.
  57. Das Volk schreit: Ein Miraculum!
  58. Und tut den Platz anstieren,
  59. Und dreht sich rechts und links herum
  60. Und kann es nicht kapieren.
  61. Und stiftet, während Domgeläuts,
  62. Da wo er fiel, ein steinern Kreuz,
  63. Den Teufel zu vexieren.
  64. Der Musikant hat niemals nie
  65. Den Weinkrug mehr gehoben,
  66. Probierte täglich sein Genie,
  67. Um Gott den Herrn zu loben.
  68. Ob er zuweilen doch einmal,
  69. Wer kann das wissen, den Pokal
  70. Ansetzte? Nur zum Proben?
Das alte Steinkreuz am Neuen Markt von Detlev von Liliencron wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/liliencron/das-alte-steinkreuz-am-neuen-markt/