Zuverlässige Geschichte

eine Ballade von Johann Friedrich Löwen

von einem in der Hitze der Begeisterung mit einem
Federmesser sich selbst geblendeten Dichter, nebst einem
angehängten wohlmeinenden Warnungsmittel

  1. Ein Geist, den man schon viele Jahre
  2. Gedruckt bei Käsekrämern fand,
  3. Der bei dem Altar und der Bahre
  4. Im Sold als Tagelöhner stand;
  5. Verstieg sich, weil er viel geschmieret,
  6. Zur Epopee, zum Trauerspiel,
  7. Und sang, wie’s Dichtern itzt gebühret,
  8. Auch in Hexametern sehr viel.
  9. Zwar trafen schreckliche Gerichte
  10. Des strengen Tadels seinen Witz;
  11. Es donnerte auf die Gedichte,
  12. In jede Zeile schlug ein Blitz.
  13. Vom Tadel wund, ging es dem Sänger
  14. Wie dem, den die Tarantel sticht;
  15. Der tanzet heftiger und länger,
  16. Der schrieb ein längeres Gedicht.
  17. Durch Wunder, Galgen, Schwert, und Räder
  18. Hat er das Mitleid oft erweckt;
  19. Denn in den Fingern und der Feder
  20. Saß ihm Begeistrung und Affekt.
  21. Itzt, da die Heldin seiner Bühne
  22. Wie sich’s gebührt, affektenvoll,
  23. Mit einer Eumenidenmiene
  24. Die Haare sich ausraufen soll;
  25. Itzt, itzt wird sein Affekt auch größer –
  26. Der Kiel wird stumpf – er nimmt voll Wut
  27. Sein ungeheures Federmesser –
  28. Und die Begeisterung will Blut!
  29. Der Stahl, geschärft auf blankem Leder,
  30. Fuhr aus der Scheide wild heraus,
  31. Fuhr durch die Nase von der Feder,
  32. Von dort ins Aug, und stieß es aus.
  33. Laß dies Exempel viele rühren,
  34. Mein dichterreiches Vaterland!
  35. O habt, kein Auge zu verlieren,
  36. Affekt im Kopf, nicht in der Hand.
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Quelle: https://balladen.net/loewen/zuverlaessige-geschichte/