Lethe

eine Ballade von Conrad Ferdinand Meyer
  1. Jüngst im Traume sah ich auf den Fluten
  2. Einen Nachen ohne Ruder ziehn,
  3. Strom und Himmel stand in matten Gluten
  4. Wie bei Tages Nahen oder Fliehn.
  5. Saßen Knaben drin mit Lotoskränzen,
  6. Mädchen beugten über Bord sich schlank,
  7. Kreisend durch die Reihe sah ich glänzen
  8. Eine Schale, draus ein Jedes trank.
  9. Jetzt erscholl ein Lied voll süßer Wehmuth,
  10. Das die Schaar der Kranzgenossen sang –
  11. Ich erkannte deines Nackens Demuth,
  12. Deine Stimme, die den Chor durchdrang.
  13. In die Welle taucht’ ich. Bis zum Marke
  14. Schaudert’ ich, wie seltsam kühl sie war.
  15. Ich erreicht’ die leise zieh’nde Barke,
  16. Drängte mich in die geweihte Schaar.
  17. Und die Reihe war an dir, zu trinken
  18. Und die volle Schale hobest du,
  19. Sprachst zu mir mit trautem Augenwinken:
  20. „Herz, ich trinke dir Vergessen zu.“
  21. Dir entriß in trotz’gem Liebesdrange
  22. Ich die Schale, warf sie in die Flut,
  23. Sie versank und siehe, deine Wange
  24. Färbte sich mit einem Schein von Blut.
  25. Flehend küßt’ ich dich in wildem Harme,
  26. Die den bleichen Mund mir willig bot,
  27. Da zerrannst du lächelnd mir im Arme
  28. Und ich wußt’ es wieder – du bist todt.
Lethe von Conrad Ferdinand Meyer wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/meyer/lethe/