Das Glöcklein

eine Ballade von Conrad Ferdinand Meyer
  1. Er steht an ihrem Pfühl in herber Qual
  2. Und muss den jungen Busen keuchen sehn,
  3. Er ist ein Arzt, und weiß, sein traut Gemal
  4. Erblasst, sobald die Morgenschauer wehn.
  5. Sie hat geschlummert. „Lieber, du bei mir?
  6. Mir träumte, dass ich auf der Alpe war.
  7. Wie schön mir träumte, das erzähl’ ich dir —
  8. Du schickst mich wieder hin das nächste Jahr!
  9. Dort vor dem Dorf — du weißt den moos’gen Stein
  10. Saß ich und rings umhallte mich Getön,
  11. Die Herden zogen alle mit Schalmei’n
  12. An mir vorüber von den Sommerhöh’n.
  13. Die Herden ziehen alle heut nach Haus —
  14. Nun ist’s die letzte wohl? Nein, eine noch!
  15. Noch ein Geläut klingt an und eins klingt aus,
  16. Das endet nicht! Da kam das letzte doch.
  17. Nun Alles still. Es starb das Abendrot,
  18. Die Matten dunkelten so grün und rein,
  19. Die hohen Gipfel standen bleich und tot
  20. Und drüber glomm ein leiser Sternenschein.
  21. Ein Glöcklein, horch! Klingt fern es aus der Schlucht?
  22. Irrt es verspätet noch am Felsenhang?
  23. Ein armes Glöcklein, das die Herde sucht —
  24. Da wacht’ ich auf — und höre noch den Klang.
  25. Du schickst mich wieder auf die lieben Höh’n —
  26. Sie haben, sagst du, mich gesund gemacht . . .
  27. Da war’s so schön, da war’s so wunderschön!
  28. Das Glöcklein! Wieder! Hörst du’s ? — Gute Nacht.“ –
Das Glöcklein von Conrad Ferdinand Meyer wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/meyer/das-gloecklein/