Der Student

eine Ballade von Ludwig Uhland
  1. Als ich einst bei Salamanka
  2. Früh in einem Garten saß
  3. Und bei’m Schlag der Nachtigallen
  4. Emsig im Homerus las:
  5. Wie in glänzenden Gewanden
  6. Helena zur Zinne trat
  7. Und so herrlich sich erzeigte
  8. Dem trojanischen Senat,
  9. Daß vernehmlich Der und Jener
  10. Brummt’ in seinen grauen Bart:
  11. „Solch ein Weib ward nie gesehen
  12. Traun, sie ist von Götterart!“
  13. Als ich so mich ganz vertiefet,
  14. Wußt’ ich nicht, wie mir geschah:
  15. In die Blätter fuhr ein Wehen,
  16. Daß ich staunend um mich sah.
  17. Auf benachbartem Balkone,
  18. Welch ein Wunder schaut’ ich da!
  19. Dort in glänzenden Gewanden
  20. Stand ein Weib wie Helena,
  21. Und ein Graubart ihr zur Seite,
  22. Der so seltsam freundlich that,
  23. Daß ich schwören mocht’, er wäre
  24. Von der Troer hohem Rath.
  25. Doch ich selbst ward ein Achäer,
  26. Der ich nun seit jenem Tag
  27. Vor dem festen Gartenhause,
  28. Einer neuen Troja, lag.
  29. Um es unverblümt zu sagen:
  30. Manche Sommerwoch’ entlang
  31. Kam ich dorthin jeden Abend
  32. Mit der Laut’ und mit Gesang,
  33. Klagt’ in manigfachen Weisen
  34. Meiner Liebe Qual und Drang,
  35. Bis zuletzt vom hohen Gitter
  36. Süße Antwort niederklang.
  37. Solches Spiel mit Wort und Tönen
  38. Trieben wir ein halbes Jahr,
  39. Und auch dies war nur vergönnet
  40. Weil halbtaub der Vormund war.
  41. Hub er gleich sich oft vom Lager,
  42. Schlaflos, eifersüchtig bang,
  43. Blieben doch ihm unsre Stimmen
  44. Ungehört, wie Sphärenklang.
  45. Aber einst, die Nacht war schaurig,
  46. Sternlos, finster wie das Grab,
  47. Klang auf das gewohnte Zeichen
  48. Keine Antwort mir herab.
  49. Nur ein alt zahnloses Fräulein
  50. Ward von meiner Stimme wach,
  51. Nur das alte Fräulein Echo
  52. Stöhnte meine Klagen nach.
  53. Meine Schöne war verschwunden,
  54. Leer die Zimmer, leer der Saal,
  55. Leer der blumenreiche Garten,
  56. Rings verödet Berg und Thal.
  57. Ach! und nie hatt’ ich erfahren
  58. Ihre Heimath, ihren Stand,
  59. Weil sie, Beides zu verschweigen,
  60. Angelobt mit Mund und Hand.
  61. Da beschloß ich, sie zu suchen,
  62. Nah und fern, auf irrer Fahrt,
  63. Den Homerus ließ ich liegen,
  64. Nun ich selbst Ulysses ward;
  65. Nahm die Laute zur Gefährtin
  66. Und vor jeglichem Altan,
  67. Unter jedem Gitterfenster
  68. Frag’ ich leis mit Tönen an,
  69. Sing’ in Stadt und Feld das Liedchen,
  70. Das im Salamanker Thal
  71. Jeden Abend ich gesungen
  72. Meiner Liebsten zum Signal;
  73. Doch die Antwort, die ersehnte,
  74. Tönet nimmermehr und ach!
  75. Nur das alte Fräulein Echo
  76. Reist zur Qual mir ewig nach.
Der Student von Ludwig Uhland wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/uhland/der-student/