Die Zauberin im Walde

eine Ballade von Joseph von Eichendorff
  1. „Schon vor vielen, vielen Jahren
  2. Saß ich drüben an dem Ufer,
  3. Sah manch Schiff vorüberfahren
  4. Weit hinein ins Waldesdunkel.
  5. Denn ein Vogel jeden Frühling
  6. An dem grünen Waldessaume
  7. Sang mit wunderbarem Schalle,
  8. Wie ein Waldhorn klang’s im Traume.
  9. Und gar seltsam hohe Blumen
  10. Standen an dem Rand der Schlünde,
  11. Sprach der Strom so dunkle Worte,
  12. ’s war, als ob ich sie verstünde.
  13. Und wie ich so sinnend atme
  14. Stromeskühl und Waldesdüfte,
  15. Und ein wundersam Gelüsten
  16. Mich hinabzog nach den Klüften:
  17. Sah ich auf kristallnem Nachen,
  18. Tief im Herzensgrund erschrocken,
  19. Eine wunderschöne Fraue,
  20. Ganz umwallt von goldnen Locken.
  21. Und von ihrem Hals behende
  22. Tät sie lösen eine Kette,
  23. Reicht‘ mit ihren weißen Händen
  24. Mir die allerschönste Perle.
  25. Nur ein Wort von fremdem Klange
  26. Sprach sie da mit rotem Munde,
  27. Doch im Herzen ewig stehen
  28. Wird des Worts geheime Kunde.
  29. Seitdem saß ich wie gebannt dort,
  30. Und wenn neu der Lenz erwachte,
  31. Immer von dem Halsgeschmeide
  32. Eine Perle sie mir brachte.
  33. Ich barg all‘ im Waldesgrunde,
  34. Und aus jeder Perl der Fraue
  35. Sproßte eine Blum zur Stunde,
  36. Wie ihr Auge anzuschauen.
  37. Und so bin ich aufgewachsen,
  38. Tät der Blumen treulich warten,
  39. Schlummert oft und träumte golden
  40. In dem schwülen Waldesgarten.
  41. Fortgespült ist nun der Garten
  42. Und die Blumen all‘ verschwunden,
  43. Und die Gegend, wo sie standen,
  44. Hab ich nimmermehr gefunden.
  45. In der Fern liegt jetzt mein Leben,
  46. Breitend sich wie junge Träume,
  47. Schimmert stets so seltsam lockend
  48. Durch die alten, dunklen Bäume.
  49. Jetzt erst weiß ich, was der Vogel
  50. Ewig ruft so bange, bange,
  51. Unbekannt zieht ew’ge Treue
  52. Mich hinunter zu dem Sange.
  53. Wie die Wälder kühle rauschen,
  54. Zwischendurch das alte Rufen,
  55. Wo bin ich so lang gewesen? —
  56. O ich muß hinab zur Ruhe!“
  57. Und es stieg vom Schloß hinunter
  58. Schnell der süße Florimunde,
  59. Weit hinab und immer weiter
  60. Zu dem dunkelgrünen Grunde.
  61. Hört‘ die Ströme stärker rauschen,
  62. Sah in Nacht des Vaters Burge
  63. Stillerleuchtet ferne stehen,
  64. Alles Leben weit versunken.
  65. Und der Vater schaut‘ vom Berge,
  66. Schaut‘ zum dunklen Grunde immer,
  67. Regte sich der Wald so grausig,
  68. Doch den Sohn erblickt‘ er nimmer.
  69. Und es kam der Winter balde,
  70. Und viel Lenze kehrten wieder,
  71. Doch der Vogel in dem Walde
  72. Sang nie mehr die Wunderlieder.
  73. Und das Waldhorn war verklungen
  74. Und die Zauberin verschwunden,
  75. Wollte keinen andern haben
  76. Nach dem süßen Florimunde. —
Die Zauberin im Walde von Joseph von Eichendorff wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/eichendorff/die-zauberin-im-walde/