Erlkönig

eine Ballade von Johann Wolfgang von Goethe
  1. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
  2. Es ist der Vater mit seinem Kind;
  3. Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
  4. Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.
  5. Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? —
  6. Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
  7. Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? —
  8. Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. —
  9. „Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
  10. Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir;
  11. Manch’ bunte Blumen sind an dem Strand,
  12. Meine Mutter hat manch gülden Gewand.“ —
  13. Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
  14. Was Erlenkönig mir leise verspricht? —
  15. Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
  16. In dürren Blättern säuselt der Wind. —
  17. „Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
  18. Meine Töchter sollen dich warten schön;
  19. Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
  20. Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“ —
  21. Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
  22. Erlkönigs Töchter am düstern Ort? —
  23. Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau:
  24. Es scheinen die alten Weiden so grau. —
  25. „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
  26. Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.“ —
  27. Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
  28. Erlkönig hat mir ein Leids getan! —
  29. Dem Vater grauset’s; er reitet geschwind,
  30. Er hält in Armen das ächzende Kind,
  31. Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
  32. In seinen Armen das Kind war tot.
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Quelle: https://balladen.net/goethe/erlkoenig/