Wandrer und Pächterin

… eine Ballade von Johann Wolfgang von Goethe

    Er

  1. Kannst du, schöne Pächt’rin ohne Gleichen,
  2. Unter dieser breiten Schattenlinde,
  3. Wo ich Wandrer kurze Ruhe finde,
  4. Labung mir für Durst und Hunger reichen?

    5. Sie

  5. Willst du, Vielgereis’ter, hier dich laben:
  6. Sauren Rahm und Brod und reife Früchte,
  7. Nur die ganz natürlichsten Gerichte,
  8. Kannst du reichlich an der Quelle haben.

    9. Er

  9. Ist mir doch, ich müßte schon dich kennen,
  10. Unvergeßne Zierde holder Stunden!
  11. Aehnlichkeiten hab‘ ich oft gefunden;
  12. Diese muß ich doch ein Wunder nennen.

    13. Sie

  13. Ohne Wunder findet sich bei Wandrern
  14. Oft ein sehr erklärliches Erstaunen.
  15. Ja, die Blonde gleichet oft der Braunen;
  16. Eine reizet eben wie die Andern.

    17. Er

  17. Heute nicht, fürwahr, zum erstenmale
  18. Hat mir’s diese Bildung abgewonnen!
  19. Damals war sie Sonne aller Sonnen
  20. In dem festlich aufgeschmückten Saale.

    21. Sie

  21. Freut es dich, so kann es wohl geschehen,
  22. Daß man deinen Mährchenscherz vollende:
  23. Purpurseide floß von ihrer Lende,
  24. Da du sie zum erstenmal gesehen.

    25. Er

  25. Nein, fürwahr, das hast du nicht gedichtet!
  26. Konnten Geister dir es offenbaren?
  27. Von Juwelen hast du auch erfahren
  28. Und von Perlen, die ihr Blick vernichtet.

    29. Sie

  29. Dieses Eine ward mir wohl vertrauet:
  30. Daß die Schöne, schamhaft zu gestehen,
  31. Und in Hoffnung, wieder dich zu sehen,
  32. Manche Schlösser in die Luft erbauet.

    33. Er

  33. Trieben mich umher doch alle Winde!
  34. Sucht‘ ich Ehr‘ und Geld auf jede Weise!
  35. Doch gesegnet, wenn am Schluß der Reise
  36. Ich das edle Bildniß wieder finde!

    37. Sie

  37. Nicht ein Bildniß, wirklich siehst du jene
  38. Hohe Tochter des verdrängten Blutes;
  39. Nun im Pachte des verlaßnen Gutes
  40. Mit dem Bruder freuet sich Helene.

    41. Er

  41. Aber diese herrlichen Gefilde,
  42. Kann sie der Besitzer selbst vermeiden?
  43. Reiche Felder, breite Wies‘ und Weiden,
  44. Mächt’ge Quellen, süße Himmelsmilde.

    45. Sie

  45. Ist er doch in alle Welt entlaufen!
  46. Wir Geschwister haben viel erworben;
  47. Wenn der Gute, wie man sagt, gestorben,
  48. Wollen wir das Hinterlaßne kaufen.

    49. Er

  49. Wohl zu kaufen ist es, meine Schöne!
  50. Vom Besitzer hört‘ ich die Bedinge;
  51. Doch der Preis ist keineswegs geringe,
  52. Denn das letzte Wort, es ist: Helene!

    53. Sie

  53. Konnt‘ uns Glück und Höhe nicht vereinen!
  54. Hat die Liebe diesen Weg genommen?
  55. Doch ich seh‘ den wackren Bruder kommen;
  56. Wenn er’s hören wird, was kann er meinen?
Wandrer und Pächterin von Johann Wolfgang von Goethe wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/goethe/wandrer-und-paechterin/