Fingerhütchen

eine Ballade von Conrad Ferdinand Meyer
  1. Liebe Kinder, wisst ihr wo
  2. Fingerhut zu Hause?
  3. Tief im Tal von Acherloo
  4. Hat er Herd und Klause;
  5. Aber schon in jungen Tagen
  6. Muss er einen Höcker tragen;
  7. Geht er, wunderlicher nie
  8. Wallte man auf Erden!
  9. Sitzt er, staunen Kinn und Knie,
  10. Dass sie Nachbarn werden.
  11. Körbe flicht aus Binsen er
  12. Früh und spät sich regend,
  13. Trägt sie zum Verkauf umher
  14. In der ganzen Gegend,
  15. Und er gäbe sich zufrieden,
  16. Wär er nicht im Volk gemieden;
  17. Denn man zischelt mancherlei:
  18. Dass ein Hexenmeister,
  19. Dass er kräuterkundig sei
  20. Und im Bund der Geister.
  21. Solches ist die Wahrheit nicht,
  22. Ist ein leeres Meinen,
  23. Doch das Volk im Dämmerlicht
  24. Schaudert vor dem Kleinen.
  25. So die Jungen wie die Alten
  26. Weichen aus dem Ungestalten –
  27. Doch vorüber wohlgemut
  28. Auf des Schusters Räppchen
  29. Trabt er. Blauer Fingerhut
  30. Nickt von seinem Käppchen.
  31. Einmal geht er heim bei Nacht
  32. Nach des Tages Lasten,
  33. Hat den halben Weg gemacht,
  34. Darf ein bisschen rasten,
  35. Setzt sich und den Korb daneben,
  36. Schimmernd hebt der Mond sich eben:
  37. Fingerhut ist gar nicht bang,
  38. Ihm ist gar nicht schaurig,
  39. Nur dass noch der Weg so lang,
  40. Macht den Kleinen traurig.
  41. Etwas hört er klingen fein –
  42. Nicht mit rechten Dingen,
  43. Mitten aus dem grünen Rain
  44. Ein melodisch Singen:
  45. „Silberfähre, gleitest leise“ –
  46. Schon verstummt die kurze Weise.
  47. Fingerhütchen spähet scharf
  48. Und kann nichts entdecken,
  49. Aber was er hören darf,
  50. Ist nicht zum Erschrecken.
  51. Wieder hebt das Liedchen an
  52. Unter Busch und Hecken,
  53. Doch es bleibt der Reimgespan
  54. Stets im Hügel stecken.
  55. „Silberfähre, gleitest leise“ –
  56. Wiederum verstummt die Weise.
  57. Lieblich ist, doch einerlei
  58. Der Gesang der Elfen,
  59. Fingerhütchen fällt es bei,
  60. Ihnen einzuhelfen.
  61. Fingerhütchen lauert still
  62. Auf der Töne Leiter,
  63. Wie das Liedchen enden will,
  64. Führt er leicht es weiter:
  65. „Silberfähre, gleitest leise
  66. Ohne Ruder, ohne Gleise.“
  67. Aus dem Hügel rufts empor:
  68. „Das ist dir gelungen!“
  69. Unterm Boden kommt hervor
  70. Kleines Volk gesprungen.
  71. „Fingerhütchen, Fingerhut“,
  72. Lärmt die tolle Runde
  73. „Fass dir einen frischen Mut!
  74. Günstig ist die Stunde
  75. Silberfähre gleitest leise
  76. Ohne Ruder, ohne Gleise!
  77. Dieses hast du brav gemacht,
  78. Lernet es, ihr Sänger!
  79. Wie du es zustand gebracht,
  80. Hübscher ists und länger!
  81. Zeig dich einmal, schöner Mann!
  82. Lass dich einmal sehen:
  83. Vorn zuerst und hinten dann!
  84. Lass dich einmal drehen!
  85. Weh! Was müssen wir erblicken!
  86. Fingerhütchen, welch ein Rücken!
  87. Auf der Schulter, liebe Zeit,
  88. Trägst du eine grause Bürde!
  89. Ohne hübsche Leiblichkeit
  90. Was ist Geisteswürde?
  91. Eine ganze Stirne voll
  92. Glücklicher Gedanken
  93. Unter einem Höcker soll
  94. Länger nicht sie schwanken!
  95. Strecket euch, verkrümmte Glieder!
  96. Garstger Buckel, purzle nieder!
  97. Fingerhut, nun bist du grad
  98. Deines Fehls genesen!
  99. Heil zum schlanken Rückengrat!
  100. Heil zum neuen Wesen!“
  101. Plötzlich steckt der Elfenchor
  102. Wieder tief im Raine,
  103. Aus dem Hügelgrund empor
  104. Tönts im Mondenscheine:
  105. „Silberfähre, gleitest leise
  106. Ohne Ruder, ohne Gleise.“
  107. Fingerhütchen wird es satt
  108. Wäre gern daheime,
  109. Er entschlummert lass und matt
  110. An dem eignen Reime.
  111. Schlummert eine ganze Nacht
  112. Auf derselben Stelle;
  113. Wie er endlich auferwacht,
  114. scheint die Sonne helle:
  115. Kühe weiden, Schafe grasen
  116. Auf des Elfenhügels Rasen.
  117. Fingerhut ist bald bekannt,
  118. Lässt die Blicke schweifen,
  119. Sachte dreht er dann die Hand,
  120. Hinter sich zu greifen.
  121. Ist ihm Heil im Traum geschehn?
  122. Ist das Heil die Wahrheit?
  123. Wird das Elfenwort bestehn
  124. Vor des Tages Klarheit?
  125. Und er tastet, tastet, tastet:
  126. Unbebürdet! Unbelastet!
  127. „Jetzt bin ich ein grader Mann!“
  128. Jauchzt er ohne Ende,
  129. Wie ein Hirschlein jagt er dann
  130. Über Feld behende.
  131. Fingerhut steht plötzlich still,
  132. Tastet leicht und leise,
  133. Ob er wieder wachsen will?
  134. Nein, in keiner Weise!
  135. Selig preist er Nacht und Stunde,
  136. Da er sang im Geisterbunde –
  137. Fingerhütchen wandelt schlank,
  138. Gleich als hätt er Flügel,
  139. Seit er schlummernd niedersank
  140. Nachts am Elfenhügel.
Fingerhütchen von Conrad Ferdinand Meyer wurde von balladen.net heruntergeladen, einem kostenlosen Literaturprojekt von Jonas Geldschläger.

Quelle: https://balladen.net/meyer/fingerhuetchen/